Schilf im Sommerwind
Schwester Recht gehabt. Als Dana das Schweigen ihrer Nichten auf dem Rücksitz bemerkte, wurde ihr Herz schwer. Tante zu sein, das war ihr stets wie ein Geschenk erschienen. Sie hatte die Mädchen mit Aufmerksamkeit überschüttet, um sie dann zu ihren Eltern zurückzuschicken. Sosehr sie ihre Familie und ihr Elternhaus in Hubbard’s Point auch liebte, sie hatte immer die Freiheit genossen, zu kommen und zu gehen, wie es ihr beliebte.
Malen war das größte Talent, das ihr in die Wiege gelegt worden war. Die Gabe, die Schönheit und den Sinn im Leben zu finden, ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihnen auf der Leinwand Ausdruck zu verleihen. Damit ging eine gewisse innere Verpflichtung einher; während andere Frauen Ehemann und Kinder an erste Stelle setzten, hatte bei Dana die Kunst Vorrang. Sie hatte keinen Ehemann, keine Kinder.
Wenn man diese Gabe besitzt, muss man einen Großteil seiner Wünsche und Bedürfnisse opfern,
hatte sie ihrem ›Protégé‹ anvertraut. Jonathan.
»Wie ist Honfleur?«, fragte Sam.
»Wunderschön«, erwiderte Dana; die Antwort war nicht nur für ihn, sondern gleichermaßen für ihre Nichten bestimmt. »Es ist eine uralte Stadt am Meer, mit hohen schmalen Häusern, die den Hafen an drei Seiten säumen. Überall gibt es Straßencafés, wo man Crêpes essen und Cidre trinken kann, und die Hügel sind von Obstplantagen bedeckt. Das Licht ist unglaublich, etwas Besseres kann man sich als Maler, egal, welcher Kunstrichtung, nicht vorstellen.«
»Wir sind keine Maler«, erinnerte Quinn sie.
»Sondern?«, fragte Sam mit einem Blick in den Rückspiegel.
»Was meinst du?«
»Eine Malerin bist du nicht; also was dann?«
»Woher soll ich das wissen? Ich bin erst zwölf!«
Sam lachte. »Jemand mit solchen Haaren ist eine Persönlichkeit, die genau weiß, was sie will.«
»Was ist mit meinen Haaren?« Aufgebracht beugte sie sich vor.
»Nichts. Sie gefallen mir. Aber du kannst mir nicht erzählen, dass es keinen Grund für deine Frisur gibt. Ich spreche aus eigener Erfahrung: Als ich in deinem Alter war, machte es mir auch nichts aus, eine Brille zu tragen.«
»Eine Brille? Was hat das denn damit zu tun?«
»Nun, ich wollte unbedingt Forscher werden. Ich gestehe es nicht gerne ein, aber ich dachte, mit der Brille sähe ich aus wie einer. Heute würde ich sie die Hälfte der Zeit mit Freuden gegen Kontaktlinsen eintauschen, was ich manchmal auch tue.«
Dana warf Sam einen raschen Blick zu. Er fuhr mit einer Leichtigkeit, als mache es ihm Spaß. Seine Hände waren groß, wie man es bei einem Mann seiner Statur erwarten konnte – sie schätzte ihn auf mehr als einen Meter achtzig. Er trug eine Brille von der gleichen Machart wie damals, als sie ihm das erste Mal begegnet war – rund und randlos. Seine Augen hinter den Gläsern waren haselnussbraun. Er sah zu ihr hinüber, als er ihren Blick bemerkte, und lächelte.
»Als Kind sah er wirklich wie ein Forscher aus«, bestätigte sie.
»Du kanntest ihn schon als
Kind?
«, fragte Quinn ungläubig.
»Ja, damals war ich jünger als du«, erwiderte Sam.
»In meinem Alter?«, erkundigte sich Allie.
»Ich war acht. Ich kannte sie beide. Dana und eure Mutter.«
Im Bus trat Schweigen ein, dehnte sich aus. Es war so still, dass Dana den Herzschlag der beiden Mädchen vernahm, und obwohl sie Haus und Hof dagegen gewettet hätte, ergriff Quinn als Erste das Wort.
»Sie kannten unsere Mutter.«
»Ja. Deshalb könnt ihr ruhig du zu mir sagen.«
»Woher?«
»Sie hat mir das Segeln beigebracht. Eure Mutter und eure Tante.«
»Du segelst?«, fragte Allie.
»Ja.« Sam spähte zu Dana hinüber.
»Heute noch?«, fragte sie.
Sam nickte. »Seit jenem Sommer. Letztes Jahr habe ich eine Cape Dory gekauft, und ich lebe praktisch an Bord. Wenn ihr das nächste Mal zu Besuch kommt, mache ich mit euch allen eine Segelpartie.«
»Ich war schon lange nicht mehr segeln«, sagte Quinn laut. »Früher oft, aber damit ist Schluss.«
»Bei mir auch«, pflichtete Allie ihr bei.
»Oh.« Dana sah, wie Sam errötete, als ihm schlagartig einfiel, wie Lily zu Tode gekommen war. Er schien zu bedauern, dass er das Thema zur Sprache gebracht hatte, und ihr wurde bewusst, was für ein einfühlsamer Mann er geworden war.
»Ich würde gerne eine Segelpartie mit dir machen«, sagte Dana.
»Wirklich?« Sam drehte sich zu ihr um, und ein strahlendes Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Ja, ich möchte sehen, ob du in der Zwischenzeit Fortschritte gemacht hast. Wehe,
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