Schilf im Sommerwind
raten, was ich entdecken musste. Oder vielmehr, nirgendwo entdecken konnte.«
»Ich weiß.« Dana trank einen Schluck Tee. »Quinn hatte die Urne in ihrem Gepäck.«
»In dem magischen, wundersamen, geheimnisvollen Handkoffer ihres Vaters«, sagte Danas Mutter mit einem Ton, in dem heimlicher Groll oder zumindest Resignation mitzuschwingen schien. Maggie, die Marthas Kummer spürte, knurrte leise.
»Nimmst du es ihr übel, dass sie Marks Koffer genommen hat?«
»Ich sage nur, dass sie diesen Koffer nicht so heiß und innig lieben würde, wenn sie wüsste, was Lily von den Reisen ihres Vaters hielt.«
Dana schenkte Tee nach. Das war wieder einmal einer der klassischen Augenblicke, in denen sie wünschte, Lily wäre hier. Solche Sätze waren typisch für ihre Mutter. Martha machte gerne rätselhafte und leicht – aber nur leicht – abfällige Bemerkungen über ein Familienmitglied, das abwesend war und sich nicht verteidigen konnte, und wenn man nachhakte, weigerte sie sich, sich näher darüber auszulassen. Dana lächelte, probehalber.
»Und was hat Lily von Marks Reisen gehalten?«
»Hm.« Ihre Mutter zuckte die Achseln. »Das spielt doch keine Rolle mehr. Wichtig ist allein, dass du hier bist. Dass die Mädchen hier sind. Schau dir den herrlichen Sternenhimmel an. Wir werden einen fantastischen Sommer bekommen.«
»Fantastisch!«, rief Allie, die nahe genug vorbeigerannt war, um das Wort ihrer Großmutter aufzuschnappen. »Fantastisch! Fantastisch!«
»Sommer, Sommer, Sommer«, rief Quinn, die Arme ausgebreitet wie eine Seemöwe im Flug.
»Sam ist Klasse«, sang Allie und lief in immer weiteren Kreisen herum.
»Sam erforscht den Ozean, drum ist er auch ein klasse Mann«, fiel Quinn ein.
»Ja«, seufzte Martha. »Es war wirklich nett von ihm, dass er dich zum Flughafen gefahren hat, aber vor allem, dass er dich zurückgebracht hat. Ich bin unsäglich froh, dass du beschlossen hast, den Flug sausen zu lassen.«
Dana nickte und sah zu, wie ihre Nichten barfuß und selbstvergessen in demselben Garten herumtollten, in dem Lily und sie als Kinder gespielt hatten. Ein Kaninchen – aus der Kaninchenfamilie, die schon in Hubbard’s Point gelebt hatte, bevor ihr Erinnerungsvermögen einsetzte – hoppelte in Rumer Larkins Garten. Maggie mit ihren seelenvollen braunen Augen nahm alles wahr, was um sie herum geschah. Samtbraune Augen, wie die eines Menschen, den Dana gut kannte.
Moniques Bild ging ihr durch den Sinn: Es war irgendwie erschreckend, dass der Blick eines Hundes sie an die junge Frau erinnerte, die ihr einmal sehr nahe gestanden und ihr als Meerjungfrau Modell gesessen hatte. Sie dachte an Sams Worte, sie sei eine Tante, wie man sie sich nur wünschen könne, und während sie dem Singsang ihrer Nichten lauschte und sich Monique vorstellte, sagte sie: »Ja, vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass sie ohne uns abgeflogen ist.«
Während der frühen Morgenstunden in Hubbard’s Point war es noch kalt. Dana brauchte eine dicke Wolljacke, um das Futter im Vogelhäuschen aufzufüllen und die Kräuterbeete zu gießen. Sie ging im Garten umher und hörte, wie Hubbard’s Point zum Leben erwachte. Ein Köderfisch-Schwarm war unten in die Bucht geschwommen, und Seeschwalben und Seemöwen machten sich lautstark ans Werk. Allie saß auf der obersten Treppenstufe, aß Cheerios, summte vor sich hin und warf ab und zu einem Eichhörnchen eine Hand voll Zerealien zu. Quinn hatte sich wortlos aus dem Staub gemacht, wie an allen vier Morgen seit dem vereitelten Abflug, um den Sonnenaufgang am Little Beach zu betrachten.
Dana lenkte den Strahl des Wasserschlauchs auf die Rosmarin- und Thymianbüschel, wobei sie dann und wann innehielt, um Unkraut zu zupfen. Die Asche befand sich wieder auf dem Kaminsims. Ihre Mutter war in ihre Senioren-Wohnanlage zurückgekehrt. Allie klammerte sich an Kimba. Quinn verbrachte jeden Augenblick, solange es hell war, im Freien. Dana dachte an ihre angefangenen Bilder, fragte sich, ob sie jemals nach Frankreich zurückkehren würde. Die Mädchen und sie wohnten unter einem Dach, bemüht, ein annähernd normales Leben zu führen, wie Automaten, da es keine Normalität mehr gab.
Danas Elternhaus war eindeutig Lilys Haus. Lilys Laken und Handtücher füllten den Wäscheschrank. In den Küchenschränken standen ihre Töpfe und Pfannen. Unter dem Waschbecken im Badezimmer befanden sich ihre rosa Gummihandschuhe. Was ihre Lektüre betraf, so war ihre Vorliebe für Gedichte,
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