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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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sie allenthalben. Fragen über Fragen; wer konnte die Antworten finden? Wer die Wahrheit ergründen?
    Dort draußen ist das Reich der Meerjungfrauen,
hatte ihre Mutter gesagt, als sie klein war. Sie haben Haare wie Seetang und Schwanzflossen wie ein Fisch, und sie leben an der tiefsten Stelle des Sunds. Sie spielen mit Hummern und jonglieren mit Muscheln, und sie öffnen Austern, auf der Suche nach Perlen, die sie ihren Müttern als Geschenk mitbringen.
    In Vollmondnächten werfen sie ihre Netze im Meer aus, fangen silbernen Köderfisch, mit dem sie ihr Haar schmücken, und in mondlosen Nächten trocknen sie ihre Netze auf den dunklen Klippen, wo jungen Mädchen, die sich auf dem Heimweg befinden und unachtsam sind, die Gefahr droht, zu stolpern und von ihnen in die Tiefe hinabgezogen zu werden.
    Quinn zitterte, als sie sich dieses unsägliche Schicksal vorstellte. Sie dachte an die Meerjungfrauen und die Hummer, aber sie wusste, von ihnen würde sie keine Antwort bekommen. Und dann fiel ihr der Ozeanograph wieder ein. Das waren Wissenschaftler, die Meere erforschten, sich mit den Geheimnissen der Tiefsee beschäftigten und Dinge in Erfahrung brachten, von denen niemand sonst wusste.
    »Sam erforscht den Ozean, darum ist er auch ein klasse Mann«, flüsterte Quinn im leeren Haus. Ob ihre Tante ihn wiedersehen würde?
    Der Rundgang durchs Haus hatte sie in die Diele im ersten Stock geführt, zum Tennisschläger ihres Vaters, der an der dunklen Holzwand lehnte – seitdem er tot war. Quinn hatte nicht zugelassen, dass ihre Großmutter ihn wegräumte oder auch nur berührte, doch nun hob sie ihn auf. Den Schläger ihres Vaters mit beiden Händen umklammernd, lief sie in ihr Zimmer. Sie holte aus, hieb damit auf ihre Matratze ein. Kissen, Decke und Nachttischlampe landeten auf dem Boden: Quinn holte blindlings aus, wieder und wieder, schlug wild um sich, als wollte sie ihr Zimmer dafür bestrafen, dass sie keine Antworten fand.

[home]
    6
    S am lag auf der Behelfsbank in der Sonne und stemmte Gewichte. Von der Hitze und der Anstrengung war sein Körper schweißgebadet, aber er beschloss, eine letzte Übungsfolge anzuschließen. Das Boot schaukelte unter ihm, und er dachte flüchtig daran, Segel zu setzen. Doch stattdessen stockte er die siebzig Pfund schweren Gewichte um zwanzig auf und trainierte weiter.
    Seine Muskeln brannten wie Feuer, was gut war. Als Wissenschaftler wusste er, dass die Erinnerungen eines Menschen in jeder Zelle gespeichert wurden, auf einer tiefen Ebene, die sich dem Zugriff des Bewusstseins entzog, und jetzt erinnerte ihn jeder Zentimeter seines Körpers an etwas, das er vergessen wollte.
    Sams Boot lag in Stony Creek vor Anker, einem Bereich, der zu Branford, Connecticut, gehörte, unweit New Haven und den Thimble Islands. An diesem Morgen war er bereits eine halbe Meile an Land gerudert, zum Kai der kleinen Ortschaft, war acht Meilen gelaufen, hatte sich Kaffee und ein Bagel einverleibt und war zurückgerudert. Obwohl er Referate lesen und einen Artikel schreiben musste, hatte er es vorgezogen, sich körperlich zu verausgaben, und seine Gewichte an Deck gebracht.
    Diese Form des Fitnesstrainings war ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Als Junge war er schmächtig gewesen, während sein älterer Bruder vor Muskeln strotzte. Er war nicht nur klein gewesen für sein Alter, sondern stammte zudem noch aus einer mittellosen Familie – die schlimmste Sünde in Newport. Zum sechzehnten Geburtstag hatte Joe ihm Hanteln geschenkt und gesagt: »Du kannst weder in einem Herrenhaus leben noch Mitglied im Yachtclub werden, und wachsen wirst du auch nicht über Nacht, aber du kannst den reichen Fettsäcken in den Arsch treten. Also los!«
    Die Sonne brannte vom Himmel, und Sam schloss die Augen. Sein graues T-Shirt war nass, als er sich langsam an seine Grenzen herantastete. »Dreizehn, vierzehn, fünfzehn«, zählte er, während das Feuer in Brustmuskulatur und Bizeps wütete. Nach Beendigung der Übung legte er die Gewichte ab und versuchte, zu Atem zu kommen. Joe hatte in allen Punkten Recht gehabt, bis auf einen: Als er siebzehn war, hatte Sam buchstäblich über Nacht einen Wachstumsschub erlebt. In jenem Jahr hatte er ganze zehn Zentimeter zugelegt, von ein Meter siebzig auf ein Meter achtzig. Im darauf folgenden Jahr, als sein Studium in Dartmouth begann, war er annähernd ein Meter neunzig groß. Die Hanteln waren ihm zustatten gekommen, denn Sam hatte sich ein Ziel gesetzt.
    Sam hatte sich in

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