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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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den Kopf gesetzt, dass Statur und Macht Hand in Hand gingen. Macht von der Art, die alles ermöglichte, die Träume wahr werden ließ. Sam kannte sich einigermaßen. Er war loyal und verfügte über ein ausgezeichnetes Erinnerungsvermögen. Er hatte ein Gedächtnis wie ein Elefant, das beste in Newport: Wenn ihm jemand etwas Gutes erwies, vergaß er es ihm nie.
    Wie Dana Underhill.
    Möglicherweise war ihr gar nicht bewusst gewesen, was sie in jenem Sommer vor langer Zeit für ihn getan hatte. Sie hatte ihm ermöglicht, an ihrem Segelunterricht teilzunehmen, ihm das A und O in einer Sportart beigebracht, die er mehr als jede andere lieben lernte. Mit dem Wasser und dem Segeln hatte er auch sein Herz entdeckt. Ohne es zu wissen, hatte sie ihn aus einem Abgrund herausgeholt, der tiefer war als jeder Meeresgraben.
    Einige Erwachsene verstanden zeitlebens nicht, was die Kindheit für jemanden bedeuten konnte, der nicht zu ihresgleichen gehörte. Zu denen, die glücklich und geliebt aufwuchsen, die nie mit ansehen mussten, wie ihre Eltern litten, die alles hatten, was ihr Herz begehrte. Diese Erwachsenen hatten keine Ahnung.
    Für Sam, auf den die Ängste der Mutter abfärbten und der es als himmelschreiende Ungerechtigkeit empfand, dass alle anderen mehr besaßen als er, war die Kindheit nicht leicht gewesen. Die Schulfotos aus jener Zeit sah er sich nicht gerne an: Kummer und Sorgen standen ihm ins Gesicht geschrieben, die Anspannung, unter der er stand, offenbarte sich in seiner Körperhaltung.
    Menschen, die sich vom Leben benachteiligt fühlen, erkennen einander auf Anhieb, und Sam wusste, dass Quinn Grayson seine weibliche Entsprechung war. Dennoch konnte sich das Mädchen glücklich schätzen. Sie hatte keine Ahnung, wie gut es ihr ging, eine Tante wie Dana zu haben.
    Dana, dachte er, und nahm die Gewichte wieder in die Hand.
    Er hatte nie vergessen, was sie für ihn getan hatte, aber er wollte vergessen, was er getan hatte. Er hatte ihr nachspioniert, hatte sie heimlich beobachtet. Die Scham, die er deswegen empfand, war so stark wie eh und je und raubte ihm den letzten Nerv.
    Wie konnte ein Mensch fein säuberlich trennen zwischen dem, was er erinnern, und dem, was er vergessen wollten? Wie gelang es ihm, die guten Erinnerungen zu speichern und den Rest auszusortieren, über Bord zu werfen? Zähneknirschend lag Sam auf dem Rücken in der heißen Sonne und begann mit dem dritten Satz. Bizeps, Trizeps und Deltamuskeln schmerzten inzwischen höllisch. Er war gewachsen, hatte seine Muskeln gestählt, aber bestimmte Dinge konnte er nicht ändern.
    Er hatte die Zeichen in Quinns Augen erkannt und wusste, was auf Dana zukam. Er wusste es, weil er die Situation aus eigener Anschauung kannte. Er wollte ihr helfen, sie durchzustehen, das war er ihr schuldig. Er musste die Ergebnisse der Delphinstudien vor Bimini auswerten, die Besprechungen in Novia Scotia absagen. Er würde nirgendwohin fahren. Er hoffte nur, dass ihm gelingen würde, sich daran zu erinnern, dass Berufliches und Privates zu trennen waren.
    Dann klingelte das Telefon unten in der Kabine, und er hätte schwören mögen, dass er wusste, wer dran war, bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete. Er hörte die Stimme, zögernd, mit einem Hauch vorgetäuschter Unerschrockenheit. Gebannt lauschte Sam, als sie die Einladung aussprach. Ihm war, als hätte er sie durch sein eigenes Wunschdenken herbeigeführt. Er hielt die Gewichte in der Hand, über seiner Brust schwebend, und hörte atemlos zu. Er würde das eine oder andere umplanen müssen, damit es klappte, aber dafür würde er schon sorgen.
    Denn auf diesen Anruf hatte er gewartet.
     
    Quinn hatte die Lampe neben ihrem Bett zertrümmert.
    Dana fand sie, als sie mit dem Korb nach oben ging, um die Schmutzwäsche einzusammeln und sie in den Waschsalon zu bringen: da das Haus auf Granitgestein erbaut war, fehlten entsprechend große Sammelbecken für die Ableitung von Abwasser und die Kapazitäten, um eine Waschmaschine anzuschließen.
    Sie fühlte sich überfordert durch die Aufgabe, Hausfrau und Mutter für ihre verwaisten Nichten zu sein – eine Doppelrolle, auf die sie nie erpicht gewesen war –, und als sie Quinns Zimmer betrat, empfand sie ihr neues Leben generell als Bürde. Als sie den Kleiderschrank öffnete, entdeckte sie in einer Ecke verborgen die Lampe. Sie kniete sich hin und sammelte die Scherben ein.
    Das Gestell bestand aus einer Muschelschale, der Nachbildung einer gerillten

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