Schilf im Sommerwind
Familientradition – die auf die Zeit zurückging, als Mom und Tante Dana Kinder gewesen waren –, dass man bis zum zehnten Lebensjahr Schwimmunterricht bekam, um ganz sicherzugehen, dass man sich in einem Notfall, gleich welcher Art, zu helfen wusste.
Deshalb war Quinn überzeugt, dass an dem Segelunfall ihrer Eltern etwas faul gewesen war.
Ihr Magen begehrte auf, wenn sie nur daran dachte. Während sie ihre Schwester und ihre Tante durch den Feldstecher beobachtete, hatte sie das Gefühl, auf einem Sprungbrett zu stehen, das sich unter ihren Füßen in Luft auflöste. Sie hielt den Feldstecher höher und suchte den Long Island Sound ab, das Gewässer, in dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren.
Die See war heute spiegelglatt. Motorboote summten in der Ferne wie geschäftige Bienen. Jenseits des Sunds lag Long Island. Mit klopfendem Herzen erinnerte sie sich, dass ihre Mutter ihr erzählt hatte, wie sie mit Tante Dana nach Shelter Island zu segeln pflegte. Und einmal waren die beiden mit Freunden die weite Strecke nach Orient Point geschwommen. Sieben Meilen, quer durch den Sund!
Und da sollte ihre Mutter – die beste Seglerin weit und breit, die sich noch vor dem zehnten Lebensjahr wie ein Fisch im Wasser bewegt und den Mut gehabt hatte, quer durch den Long Island Sound zu schwimmen – einfach so ertrunken sein? Gleich dort, hinter der Glockenboje, mit der die Klippen und Untiefen der Wickland Shoals markiert waren, dachte Quinn. Den Blick auf die Stelle geheftet, zitterte der Feldstecher in ihrer Hand.
Quinn konnte sich ausmalen, was wirklich passiert war. Sie ließ den Feldstecher sinken, trat vom Fenster zurück. Der Anblick des Wassers, das sich ausdehnte, soweit das Auge reichte, machte sie krank. Da sie jetzt alleine zu Hause war und sich sicher wähnte, konnte sie die Augen schließen und ihren Gefühlen freien Lauf lassen.
Das war ihr Haus. Diese vier Wände bargen Geheimnisse, die nur ihrer Familie bekannt waren. Tante Dana war hier aufgewachsen, und Grandmas Mutter hatte es mit ihrem Mann erbaut, aber das Haus gehörte Quinn, Allie und ihren Eltern. Ihr Vater hatte das Dach neu gedeckt, die Küche renoviert. Jedes Brett, jeder Nagel, jeder Teppich, jedes Bücherregal hatten ihre Geheimnisse verinnerlicht.
Quinn hatte sie in ihrem Herzen und in ihrem Tagebuch verschlossen. Sie liebte ihre Familie, und deshalb würde sie diese Geheimnisse für immer hüten. Das Flüstern und Weinen – sie konnte beinahe hören, wie es durch die Wände drang. Ihr Tagebuch hatte sie davor bewahrt, die Last alleine zu tragen, und sie hatte sich alles von der Seele geschrieben.
Als sie durch die Räume ging, war es, als statte sie den vertrauten Dingen in ihrer Welt einen Besuch ab. Das Wörterbuch stand in der Diele im ersten Stock, gemeinsam mit den Aquarellen, die ihre Mutter von den vier Jahreszeiten gemalt hatte, und dem Tennisschläger ihres Vaters. Als sie den Griff berührte, den seine Finger umklammert hatten, spürte sie plötzlich einen solchen Energiestoß, dass sie sich hinsetzen musste.
Wenn sie nur später angefangen hätte, Tagebuch zu schreiben. Ihre Mutter hatte es gelesen. Quinn konnte ihre Stimme beinahe wieder hören. Eine leise Stimme, bemüht, die Dinge zu erklären, die Quinn ihrem Tagebuch anvertraut hatte. Quinns Gesicht war heiß und rot vor Scham gewesen, aber auch vor Wut und Empörung, die so hohe Wellen schlugen, dass sie kaum zugehört hatte. Quinn konnte nicht verzeihen, und sie wettete, ihre Mutter auch nicht.
Zwei Tage später waren ihre Eltern tot.
Ihre Mutter, die quer durch den Sund schwamm, die beim Tauchen in den Felsentümpeln auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit nur einem Atemzug ans andere Ufer gelangte, die Quinn Segeln gelehrt hatte, und ihr Vater, der mit Allie und Quinn auf seinem breiten Schultern zum Ponton hinausschwimmen konnte, ohne zu ermüden – sie beide waren ertrunken.
Quinn kannte die genauen Einzelheiten nicht; sie brachte es nicht fertig, sich diese vorzustellen, nicht einmal dann, wenn sie in ihr Tagebuch schrieb, wie sie es angestellt hatten. Aber sie war fest überzeugt, dass es kein Unfall gewesen war, sondern dass ihre Eltern den Tod gesucht hatten.
Den Tod auf dem Meeresgrund.
Das Sonnenlicht glitzerte auf der Oberfläche der Bucht, wurde den Hügel hinauf reflektiert, drang bis ins Haus. Überall war Wasser. Quinn kehrte den Fenstern ihren Rücken zu, aber der Widerschein des Meeres tanzte in Spiegeln und Bilderrahmen, umgab
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