Schilf im Sommerwind
sich schwer, ein Lächeln zustande zu bringen. Das war viel zu glatt gegangen, und nun hatte sie ein schlechtes Gewissen: Es machte keinen Spaß, sich mit jemandem anzulegen, der sich nicht wehrte. Tante Dana gab sich große Mühe, es allen Recht zu machen, wünschte sich, von ihren Nichten akzeptiert zu werden. Sie würde ihr vermutlich jede Bitte erfüllen. Quinn überschlug die Zahlen blitzschnell im Kopf und schätzte, dass sie Sams Honorar auf fünfzig Mäuse herunterhandeln konnte.
»Fünfzig Dollar«, sagte sie.
»Ein Hotdog-Stand.«
»Wie bitte?«
»Du musst dir das Geld natürlich verdienen. Du könntest Zeitungen austragen, aber ich bin sicher, dass Hubbard’s Point in dieser Hinsicht bereits eingedeckt ist. Wenn du Hotdogs verkaufst, sagen wir zu je einen Dollar fünfzig, reichen dreißig aus, bis du die Summe beisammen hast. Den Sprudel nicht eingerechnet. Ich werde dir das Startkapital zur Verfügung stellen.«
»Mom hat mich nie gezwungen zu arbeiten«, protestierte Quinn empört. »Sie hat mir Taschengeld gegeben.«
»Wie viel?«
»Fünf Dollar die Woche.«
Tante Dana öffnete ihre Handtasche, holte einen Fünf-Dollar-Schein heraus und reichte ihn ihr. »Bitte sehr. Jetzt musst du nur noch fünfundvierzig dazuverdienen.«
»Von wem ist der Brief?« Quinn wechselte rasch das Thema; ihre Frage klang vorwurfsvoll.
»Jonathan Hull.«
»Wer ist denn
das
?« Quinn starrte den hauchdünnen Umschlag an, der in Honfleur, Frankreich, abgestempelt war.
»Mein Exfreund.« Tante Dana nahm die Lektüre ihrer Post wieder auf, überließ Quinn sich selbst, mit offenem Mund und einem Fünf-Dollar-Schein, der im Sommerwind flatterte. Sie hatte gewusst, dass ihre Tante kein Kind von Traurigkeit gewesen war, aber keine Ahnung gehabt, dass Männer bei ihr noch aktuell waren – sie hatte zwar ›Exfreund‹ gesagt, aber was sollte der Brief, wenn die Beziehung zu Ende war? Quinn dachte an Rumer Larkin, die ein paar Häuser weiter wohnte. Sie war ungefähr in Tante Danas Alter, gehörte aber schon zu den – wie nannte man sie gleich wieder? – ›Les Dames de la Roche‹. Zu den eisernen alten Jungfern von Hubbard’s Point, die nie geheiratet hatten, keinen Mann brauchten. Es hieß, ihre Mutter habe einmal ein echtes Einhorn gesehen. Rumer half verletzten Tieren, sprach sogar mit ihnen, das hatte Quinn selbst gehört. Solche Frauen waren wunderlich, aber auch irgendwie interessant. Wenn sie Tante Dana nur dazu bringen könnte, eine ›Dame de la Roche‹ zu werden – dann wäre dieser Kerl namens Jonathan Hull, der sich in Frankreich rumtrieb, glatt abgeschrieben und sie hätte eine Sorge weniger.
Als sie sich von dem Schrecken erholt hatte, ging sie durch die Schiebetür ins Haus.
Die Messingurne befand sich wieder auf dem Kaminsims. Quinn blieb davor stehen. Die Einfassung war ein kleiner Altar, den sie jeden Tag besuchte, und genau der Grund, warum sie nicht wollte, dass die Asche ihrer Eltern in alle vier Himmelsrichtungen verstreut würde. Sie befanden sich am richtigen Platz, hier im Haus, wo Quinn sie brauchte.
»Sie hat einen Freund«, sagte sie laut. »In Frankreich. Kein Wunder, dass sie zurück will. Und sie verlangt von mir, dass ich arbeite, um das Geld zu verdienen, das ich Sam für seine Dienste zahlen muss. Aber das ist es mir wert: Ich werde herausfinden, was mit euch passiert ist. Ich muss es einfach wissen. Und ich werde eure Schulden begleichen …«
Stumm lauschte sie. Wären ihre Eltern in der Lage gewesen, sie zu hören und zu antworten, würden sie jetzt bestimmt sagen:
Wir lieben dich, wir lieben dich, wir lieben dich über alles.
Aber warum waren sie gestorben, wenn sie ihr so viel Liebe entgegenbrachten?
Am Samstag stand Dana früh auf. Da Sam um Punkt neun Uhr kommen wollte, ging sie in den Schuppen hinunter, um aufzuräumen, damit sie von allen Seiten an das Boot herankamen. Der Himmel war diesig; Wanderheuschrecken summten in den Bäumen, ein sicheres Zeichen, dass der Tag heiß werden würde. Die Mädchen waren mit ihren Fahrrädern zum Postamt gefahren und wollten anschließend Vorräte für ihren Hotdog-Stand kaufen. Dana, in Arbeitskleidung, schenkte sich eine zweite Tasse Kaffee ein und dachte darüber nach, warum sie so aufgeregt war.
Das alte Boot sah altersschwach aus. Der Anhänger, auf dem es aufgebockt war, rostete an verschiedenen Stellen, ein Reifen war platt. Die Farbe blätterte ab, und der Schiffsboden war mit einer uralten, vertrockneten
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