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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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Schaber hin.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich bin mir nicht sicher.« Sie starrte den Schaber an. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Wenn sie ehrlich gegenüber sich selbst war, lautete die Antwort Nein, nichts war in Ordnung. Lily war überall oder, genauer gesagt, die Erinnerungen an sie. Sie hatte ihre Schwester unsäglich geliebt. Das kleine Boot vereinte ihre beiden größten Leidenschaften: Segeln und Malen.
    »Weckt das Boot den Wunsch in dir, wieder zu malen?«
    »Daran hatte ich nicht gedacht«, sagte sie.
    »Vielleicht würde es helfen.«
    »Helfen? Wobei?«
    »Dir einen Halt zu geben. Du hättest etwas, worauf du dich konzentrieren kannst; deine Gedanken würden nicht immer darum kreisen, wie sehr du sie vermisst.«
    Der Boden unter ihren Füßen schien zu schwanken, als hätte ein kleines Erdbeben den alten Schuppen heimgesucht. Um ihr Gleichgewicht kämpfend, kniete sie sich neben die Blue Jay und richtete ihr Augenmerk auf den Querbalken. Sam hatte sie ausgesprochen, die Worte: Lily vermissen. Es waren große Worte, die mehr Raum einnahmen, als er, oder sogar sie selbst, sich vorstellen konnte.
    Das war für sie am schwersten – das Bild der Meerjungfrau zu sehen, das sie gemeinsam gemalt hatten. War es möglich, dass außer ein paar verblassten Pinselstrichen nichts übrig geblieben war? Dana dachte an die zahllosen Bilder, die im Laufe der Jahre entstanden waren, und die zahllosen Meerjungfrauen, die sie darin versteckt hatte. Sie waren Schutzengel, wie Lily in ihrem Brief an Monique geschrieben hatte, Retter aus der Meerestiefe …
    Sam beobachtete Dana aus dem Augenwinkel, während er die Arbeit fortsetzte. Er schabte mit aller Kraft, die Splitter des alten Anstrichs flogen in alle Richtungen. Seine Hände und Unterarme waren mit blauen Farbpartikeln übersät. Seine Schultern drohten, das graue T-Shirt, dunkel vom Schweiß, zu sprengen, seine Muskeln glänzten.
    »Du hast es schwer mit mir«, sagte sie und rang sich ein Lächeln ab. »Da kommst du extra hierher, um eine gute Tat zu vollbringen, und ich bin zu nichts zu gebrauchen.«
    »So sehe ich das nicht.«
    »Danke. Aber du bist nur höflich.«
    »Nein, Dana. Wirklich – niemand zwingt uns, das Boot zu Wasser zu lassen, wenn du noch nicht bereit bist. Wir können jederzeit aufhören.«
    »Bring mich nicht in Versuchung. Aber ich denke nicht nur daran, wie Lily und ich es gekauft haben und damit gesegelt sind, sondern auch an die Mädchen, Quinn und Allie, und was ihnen entgeht, wenn das Boot nur im Schuppen steht.«
    »Also machen wir weiter?«
    »Ja.« Sie machte sich mit neuem Elan an die Arbeit. Sie standen sich gegenüber, das Boot zwischen ihnen, und sie warf ihm dann und wann einen Blick zu. Seine Augen leuchteten, verrieten Neugierde auf das Leben, und es hatte den Anschein, als ob ihm das Abkratzen der alten Farbschicht Spaß machte. Dana wusste, dass sie früher genauso gewesen war. Eben diese Eigenschaft hatte Jonathan so anziehend gefunden: Sie war dynamisch gewesen, lebendig, aufgeschlossen für die Welt.
    Nun hatte sie sich einen Panzer zugelegt. Er war nicht sichtbar, nicht greifbar, aber sie wäre nicht einmal dann in der Lage gewesen, ihn abzulegen, wenn ihre Seligkeit davon abhinge. In Sams Gegenwart, wenn sie seine Anteilnahme spürte, wünschte sie sich, sie wäre weichherziger. Sie hätte viel darum gegeben, wieder so zu sein, wie sie gewesen war, als sie das Boot gekauft hatten: verliebt in das Meer und den Himmel, unfähig, auch nur eine Minute länger als nötig zu warten, um an Bord zu gehen und die Wellen zu durchpflügen. Nun war sie ständig auf der Hut, verletzt durch Nackenschläge, die ihr das Leben beigebracht hatte, und hatte kaum noch den Wunsch, aus ihrem Schneckenhaus herauszukommen. Ihre Schwester war tot, und der Mann, den sie geliebt hatte, der sie um ihrer selbst willen zu lieben und zu bewundern schien, weil sie malen konnte, als lebte sie auf dem Meeresgrund – dieser Mann war zu ungeduldig gewesen, hatte nicht warten können.
    Nach dem Abkratzen und Abschmirgeln begannen sie, das Boot zu streichen. Am anderen Ende der Straße übte Winnie Hubbard Tonleitern, ihre Stimme war nicht zu überhören. Leute schlenderten die Cresthill Road entlang und verlangsamten neugierig ihren Schritt. Manche grüßten mit einem Hallo, andere gingen stumm vorüber. Rumer Larkin fuhr mit dem Traktor vorbei, Heuballen auf der Ladefläche gestapelt. Marnie, die mit ihren Töchtern und einer ganzen Wagenladung

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