Schilf im Sommerwind
Geschwister?«
»Nein, ich bin der Jüngste. Joe und ich sind die Einzigen.«
»Was für einen Trick hast du dann auf Lager? Und verrat ihn mir schnell, denn ich muss noch eine Menge lernen.«
»Ich bin hin und wieder mit Clea und ihrer Familie zusammen. Sie ist die Schwester meiner Schwägerin, hat einen Jungen und ein Mädchen in Quinns Alter.«
»Clea und Caroline Renwick. Und ihre Schwester Skye. Sie gehörten zu einer anderen Liga als Lily und ich. Wenn sie am Firefly Beach eine Party feierten, hörten wir die Musik über das Wasser und stahlen uns an den Strand, um besser zu sehen.«
»Und was habt ihr gesehen?«
»Eine andere Welt.« Dana blickte aus dem Fenster, als die Erinnerung lebendig wurde. »Wir kamen uns vor wie Cinderella, die einen Blick auf den Ball im Königsschloss erhascht, und auf die Leute, die Champagner tranken, unter dem Sternenhimmel tanzten, nachts schwimmen gingen …«
»Für mich war das auch eine völlig andere Welt«, gestand Sam. »Als Joe Caroline heiratete, wurde ich von ihrer Familie mit offenen Armen aufgenommen. Zuerst war ich mir nicht sicher, ob ich dorthin gehörte. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass es keine hohle Geste, sondern aufrichtig gemeint war.«
Dana hörte die Unsicherheit in seiner Stimme. Sie währte nur einen Moment, dann war sie verschwunden. Doch sie weckte die Erinnerung daran, wie er als Junge gewesen war.
Sie sah ihn wieder vor sich in seinen ausgeblichenen Shorts, dem zerrissenen und geflickten T-Shirt und den schmutzigen Laufschuhen, und daneben die anderen Jugendlichen in ihrer teuren Yachtclub-Montur mit den handgenähten Top-Sider-Segelschuhen. Sie erinnerte sich an die Haarlocke, die über der Stirn hochstand, an die Furche zwischen den Augenbrauen. Als sie ihn jetzt ansah, groß, schlank und muskulös, entspannt auf die Armlehne des Sofas gestützt, spürte sie ein Flattern im Bauch.
»Außenstehende, die einen Blick über die Mauer werfen durften«, sagte Dana.
»Genau. Ich wusste nicht, dass ihr beide, Lily und du, das Gleiche empfunden habt.«
Sie nickte. »Das war vermutlich der Hauptgrund dafür, dass wir ein Faible für dich hatten.«
Er schwieg, und ihr schien, als würde er rot, obwohl er im Dunkeln saß. »Hast du dieses Gefühl heute noch?«, fragte er.
»Manchmal«, erwiderte sie ruhig und blickte wieder angestrengt aus dem Fenster. »Ich glaube, so ergeht es vielen Künstlern. Wir passen in keine Schablone, und irgendwie ist das ein Ansporn für unsere Kreativität. Wir müssen andere Welten schaffen, die uns ein gutes Gefühl vermitteln.«
»Deine Welten befinden sich unter Wasser. Deine Bilderwelten, meine ich. Blau über blau … in unendlich vielen Schattierungen. Man würde sie gar nicht alle bemerken, es sei denn, man verbringt viel Zeit auf Booten.«
Dana sah dieses Blau nun vor sich, als sie auf das nächtliche Meer hinausblickte. Es war dunkel, beinahe schwarz, mit Sprenkeln vom Sternenlicht und einer Andeutung des aufgehenden Mondes.
»Unterwasserwelten«, fuhr Sam fort. »Die Wassersäule: der Meeresgrund, ein Dickicht von Algen, submarines Leben, und immer wieder die Meerjungfrau.«
»Die was?«, fragte Dana mit zitternder Stimme.
»Die Meerjungfrau.«
Niemand sprach. Der einzige Laut waren die anbrandenden Wellen und ein Schiffsmotor in der Ferne. »Woher weißt du von ihr?«
»Ich sehe sie.« Er schaute ihr in die Augen.
Wieder fühlte sie das seltsame Flattern im Bauch. Er sah sie unentwegt an mit seinem offenen, wissenden Blick, dem Dana nicht standzuhalten vermochte. Sie wandte die Augen als Erste ab.
»Du bist der Einzige.« Dann verbesserte sie sich: »Mit Ausnahme einer Person.«
»Lily?«
Dana nickte. »Die Meerjungfrauen malte ich für sie. Immer. Aber ich versteckte sie im Bild, mit Hilfe einer Camouflage-Technik, damit sie für alle anderen unsichtbar blieben. Ich hatte eine junge Frau, die mir als Modell diente, damit sie lebensecht wurden. Aber selbst sie wusste nicht, wozu ich sie brauchte …« Sie lachte leise, als sie sich an Moniques nachhaltigen Mangel an Interesse erinnerte, an die Art, wie sie einfach nur dalag, mit ihren Gedanken in weiter Ferne. Das war gut, dachte Dana nun. Dadurch fand sie keinen Zugang zu Lilys und meiner Welt.
»Wo hast du ein Meerjungfrau-Modell gefunden?«
»Sie war menschlich. Allzu menschlich«, erwiderte Dana leise.
»Aber täuschend ähnlich. Die Meerjungfrauen, die du malst, sehen aus, als wären sie einem Lehrbuch über Meeresbewohner
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