Schilf im Sommerwind
dass sie auf der Insel so lange wie möglich ihr Auskommen fanden. Aber die Wirtschaftslage auf dem Festland war besser, zumal es dort ganzjährig Beschäftigungsmöglichkeiten gab, und so hatte Lily ihn überredet, an ihren Geburtsort, Hubbard’s Point, zu ziehen. Dort hatte er seine Bauträgerfirma gegründet und sehr viel Geld verdient.
Ab und zu nahmen alte Freunde, die Arbeit suchten, Kontakt zu ihm auf. Manche waren gewillt, die Insel zu verlassen, aber die meisten hielten an ihrer Scholle fest. Das war der Knackpunkt: Mark durfte dort nicht bauen. Da Lily begeistert war von der natürlichen Schönheit der Moore und Strände auf der Insel, hatte Mark sich einverstanden erklärt, niemals Land auf Martha’s Vineyard zu erschließen.
In den eisigen Wintermonaten, wenn die Männer keine Arbeit hatten, erklärten sich einige einverstanden, nach New York, Hartford, Louisville oder Dayton zu fliegen – wo immer Mark Grayson eine neue Baustelle hatte. Er stellte mit Vorliebe Inselbewohner ein, aber nie auf Kosten der Arbeitsqualität. Stolz auf seine Bauwerke, beschäftigte er nur die Besten.
Dana setzte sich auf die Mauer, um den Brief von Jonathan zu lesen, während sie sich fragte, welches Projekt wohl Marks letztes gewesen sein mochte. Sie blinzelte in der grellen Sonne. Jonathan fragte an, ob sie die Malutensilien aus ihrem Atelier haben wolle. Die Farben und Leinwände, die dort noch herumstanden, könne sie doch bestimmt gut gebrauchen. Sie solle ihm Bescheid sagen, dann würde er sie umgehend in die Staaten schicken, als Frachtgut.
Sie zerknüllte den Brief, hielt ihn in der Hand.
Am nächsten Morgen begann es zu regnen, und das schlechte Wetter dauerte vier Tage. Quinn war am ersten Tag einer Panik und am zweiten der Verzweiflung nahe. Der Wind hatte die wenigen Plakate, die noch nicht vom Regen aufgeweicht waren, heruntergerissen. Würstchen, Senf und Ketschup würden sich noch eine Weile halten, aber die Ausgaben für die Hotdog-Brötchen konnten sie abschreiben!
»Morgen schmecken sie altbacken und setzen Schimmel an«, jammerte sie.
»Keine Angst«, sagte Tante Dana und verstaute die Plastiktüten im Tiefkühlschrank.
»Die Brötchen sind im Eimer! Im Eimer!«
»Mit Sicherheit nicht, lass dir das von mir gesagt sein. Deiner Mutter und mir ist es damals nicht anders ergangen. Wir hatten die Plakate angebracht, und alle hatten versprochen zu kommen, aber das Einzige, was kam, waren Regenschauer. Es goss in Strömen, die reinste Sintflut. Meine Mutter legte die Brötchen ins Tiefkühlfach, bis es ausgestanden war.«
»Und dann? Habt ihr euren Stand aufgebaut?«
»Ja, haben wir.«
Quinn zuckte innerlich zusammen. Sie wollte Tante Dana nicht zeigen, wie schmerzlich es für sie war, wenn sie ›wir‹ sagte. Es fiel ihr jedes Mal auf, aber an einem trübseligen Regentag wie diesem tat es ihr in der Seele weh, wenn sie an die andere Hälfte von Tante Danas ›wir‹ dachte.
»Du wirst auch deinen Stand haben. Und genug Geld verdienen, um das zu kaufen, wofür du sparst.«
Quinn schwieg und stellte sich vor, woran Tante Dana dabei dachte. Wahrscheinlich an die Wünsche, die sich die meisten Zwölfjährigen erfüllt hätten: CD s, superkurze Röcke, ausgebeulte Hosen, Make-up, Ohrringe. Der Gedanke an solche Dinge lag Quinn so fern wie die Ufer von Long Island auf der anderen Seite des Sunds.
Sie schloss die Augen und wusste, dass sie sich nur eine Sache von ganzem Herzen wünschte: eine Antwort, eine einzige kleine Antwort.
Sie dachte an die Bilder ihrer Tante in der Black Hall Gallery: große viereckige Wasserflächen, jede wie eine Fotografie, auf der ein kleiner Ausschnitt des Meeres dargestellt war. Sie stellte sich vor, wie sie die Stelle in den Tiefen des Sunds in den Brennpunkt rückte, an der ihre Eltern verschollen waren, eingerahmt wie Tante Danas Gemälde.
»So, jetzt ist alles verstaut«, sagte Tante Dana mit einem Blick in den Tiefkühlschrank, dessen Tür offen stand, und ließ sich die frostige Luft ins Gesicht wehen. »Die Hotdog-Brötchen sind vor Schimmel geschützt, Quinn.«
»Was ist, wenn Sam nicht mehr auftaucht? Wenn es so lange regnet, dass er den Hotdog-Stand vergisst?«
»Dann rufen wir ihn an und helfen seinem Gedächtnis auf die Sprünge.«
»Ich möchte, dass er kommt.«
»Ich weiß.«
»Du auch?«
Tante Dana sah überrascht aus, war sofort auf der Hut. »Sicher«, erwiderte sie bedachtsam. »Ich mag Sam.«
Quinn nickte. Trotzdem überzeugte die Antwort
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