Schilf im Sommerwind
Dana konnte ihn nicht verbergen, selbst nach einem halben Jahr nicht.
»Der Altersunterschied zwischen meinem Freund – meinem Exfreund – und mir betrug zehn Jahre. Ich sagte mir, das sei egal. Wir hatten viele Gemeinsamkeiten, bei denen das Alter unerheblich war. Er war Maler, wir teilten uns ein Atelier in Honfleur. Wir reisten zusammen, malten unter freiem Himmel, stellten unsere Staffeleien am Bosporus auf, an den Stränden der Ägäis …«
»Klingt idyllisch.«
»War es auch, eine Weile.« Dana kniff die Augen zusammen, ihr Blick schweifte zum Kaminsims. Sie starrte das schlichte Messingbehältnis an, und ihre Kehle brannte. »Als Lily starb, war Schluss mit der Idylle. Ich konnte nicht mehr malen; an manchen Tagen war ich nicht einmal in der Lage, aus dem Bett aufzustehen.«
»Uns erging es ähnlich.«
»Jonathan verstand mich nicht. Anfangs versuchte er es noch – er hat eine Schwester, die er liebt, und vermutlich konnte er sich vorstellen, wie es ihm an meiner Stelle gehen würde. Aber irgendwann hatte er mich satt.«
»Dich
satt
?«
»Er war mit seiner Geduld am Ende. Ich konnte nicht mehr malen, wollte nicht mehr reisen. Ich sah keinen Sinn darin … Ich entließ mein Modell.«
»Dein Modell?«
»Ich brauchte sie, um meine Meerjungfrauen zu malen – vergiss es, es spielt keine Rolle. Die Sache war, ich konnte überhaupt nicht mehr arbeiten.«
»Das ist eine Folge der Trauer.« Marnie nahm Danas Hand. Sie kannte diese Blockade aus eigener Erfahrung. Ihr Vater war gestorben, als sie fünfzehn war.
»Ja, das denke ich auch«, erwiderte Dana ruhig. »Ich hielt mir vor Augen, dass Jonathan nie jemanden verloren hatte, der ihm nahe stand. Er hatte Glück gehabt – woher sollte er wissen, wie man sich in einer solchen Situation fühlt? Er ist jung; ihm waren Schicksalsschläge oder Enttäuschungen im Leben erspart geblieben …«
»Bisher.«
Dana nickte. Sie hatte sich zahlreiche Entschuldigungen für Jonathans Verhalten zurechtgelegt. Nachdem sie die Hiobsbotschaft erhalten hatte, hatte er sich rührend um sie bemüht – in den ersten zwölf Stunden, in denen sie nur geweint, mit dem Schicksal gehadert und versucht hatte zu begreifen, dass Lily wirklich tot war. Er hatte sie zum Flughafen gefahren, damit sie an der Trauerfeier und Einäscherung teilnehmen konnte, und sie nach ihrer Rückkehr abgeholt.
»Mit uns beiden, das war nichts Ernstes. Damals dachte ich das zwar, aber ich habe mir wohl etwas vorgemacht. Selber schuld, was musste ich mich auch in einen so jungen Mann verlieben.«
»Lag es an seinem Alter oder an seinem Charakter, was meinst du?«
Dana schwieg, und überrascht stellte sie fest, dass sie plötzlich an Sam dachte. Vielleicht wäre er geduldiger gewesen, hätte nicht versucht, sie zu drängen, ihre Gefühle aufzuarbeiten. Schon kurz nach ihrer Rückkehr hatte sie bemerkt, dass Jonathan erwartete, alles würde im Handumdrehen wieder beim Alten sein.
Er hatte Picknickkorb, Farben und Staffeleien im Auto verstaut und auf der Schlafzimmerschwelle gestanden, hatte sie stumm und vorwurfsvoll angeschaut, weil sie immer noch im Bett lag. Er hatte Einladungen zum Essen angenommen und war ausgerastet, wenn Dana sich weigerte mitzugehen.
»Du musst darüber hinwegkommen«, hatte er immer wieder gesagt. »Ich möchte dir dabei helfen …«
»Wie kann ich jemals ›darüber‹ hinwegkommen, über Lilys Tod – ihn ›wegstecken‹?« Hatte sie ihn eines Tages unter Tränen angeschrien, als er sie nach Paris mitnehmen wollte, um im Park von Bagatelle zu malen.
»Das ist dein Leben, Dana!«, hatte er zurückgebrüllt. »Nicht Lilys, und niemandes sonst. Sie ist vor zwei Monaten gestorben, und du verkriechst dich immer noch im Bett. Dich unter der Bettdecke zu verstecken macht sie auch nicht wieder lebendig!«
Dana hatte ihn keiner Antwort gewürdigt.
»Deine Nichte hat angerufen.« Seine Stimme hatte frustriert geklungen, da er wusste, dass das Einzige, das sie auf Trab brachte, ein Anruf von einem der Mädchen war. Er wusste, sie würde sich aufraffen und das Bett verlassen, zum Telefon gehen und zurückrufen. Quinn und Allie weckten ihre Lebensgeister, was niemandem sonst gelang, nicht einmal ihm.
Dana hatte bald festgestellt, dass sie eine Beziehung führte, die nicht funktionierte. Was brachte es, sich gegenseitig anzuschreien, weil sie uneins waren, was den Tod ihrer Schwester betraf? Sie lernte viel über Mauern und Panzer, über die Selbstschutzmechanismen,
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