Schilf im Sommerwind
auf ihre Mühlen.
»Ja. Sie hatten selbst gemachte Plakate aufgehängt, genau wie ihr, sich mit Marthas Schürzen herausgeputzt – Lily sah wie immer zum Anbeißen aus – und servierten jedem Frankfurter Würstchen, der fünfzig Cents hatte. Ein Mittagessen für fünfzig Cents, man stelle sich das vor! Ich habe Marnie, Charlotte und Lizzie für weniger als zwei Dollar satt bekommen. Ja, das waren noch Zeiten …«
»Es war einmal …«, sagte Quinn.
Annabelle lachte. Sie stammte aus den Südstaaten und reagierte in jeder Lebenslage wohlerzogen und gutmütig. Falls sie den Unterton in Quinns Stimme bemerkt hatte, der besagte, dass sie keine Lust hatte, herumzustehen und sich über ihre Mutter zu unterhalten, ließ sie sich nichts anmerken. Tante Dana legte wortlos die nächsten Hotdogs auf den Grill, und als sie fertig waren, schob Quinn sie in die Brötchen.
»Wofür sparst du eigentlich, wenn man fragen darf?«, erkundigte sich Annabelle.
»Das ist ein Geheimnis«, erklärte Grandma. »Das verrät sie niemandem.«
»Cameron schon«, lachte Annabelle. »Und die sagt es mir weiter, oder, Cam?«
Quinn warf Cameron einen mörderischen Blick zu, damit diese gar nicht erst auf dumme Gedanken kam. Quinn würde schweigen wie ein Grab; das hätte ihr gerade noch gefehlt, dass die Familie McCray ihre Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen.
»Klar, Grammy«, erwiderte Cameron und verdrehte die Augen.
Allie glättete ihre Schürze. Tante Dana hatte den Stoff in der Taille hochgekrempelt, damit der Saum nicht über den Boden schleifte. Man konnte nur noch ›Küss die‹ lesen, das ›Köchin‹ war in den Falten verschwunden. »Mit meinem Geld kaufe ich weiße Blumen«, sagte sie.
»Weiße Blumen?« Annabelle strahlte wie ein Honigkuchenpferd.
»Für Mommy. Wenn wir ein Grab hätten, würde ich es mit weißen Blumen schmücken. Grandma, du legst doch auch immer Geranien auf das Grab, wenn wir Granddad auf dem Friedhof besuchen.«
Niemand sprach, und niemand aß. In Quinns Magen rumorte es. Grandma nickte bestätigend, ebenfalls stumm.
»Mommy hat weiße Blumen geliebt«, fuhr Allie fort. »Daddy ist das egal. Er mochte den Garten nicht besonders. Aber Mommy –«
»Ich habe schon immer gesagt, dass es ein Fehler ist, wenn man kein Grab hat«, warf Annabelle in ihrer leisen Südstaatenart ein. »Die Kinder brauchen einen Ort, an dem sie Zwiesprache halten können. Wenn jemand eingeäschert ist, sollte man die sterblichen Überreste auch beisetzen und einen Grabstein anbringen lassen.«
»Quinn hat versucht, die Asche ihrer Eltern im Flugzeug mitzunehmen«, meldete sich Cameron zu Wort.
»Natürlich!«, sagte Annabelle warmherzig. »Sie muss doch wissen, wo sie sind.«
Ein Fauchen ertönte, wie von einer Katze. Lang gezogen, grimmig und heiser, schien es aus einer unterirdischen Höhle zu kommen. Plötzlich merkte Quinn erschrocken und entsetzt, dass sie den Laut ausgestoßen hatte.
»Sie werden nicht beigesetzt, und damit basta …«, zischte Quinn mit zusammengebissenen Zähnen.
»Liebes, es tut mir Leid, wenn ich etwas gesagt habe, das dich verletzt«, entschuldigte sich Annabelle.
Inzwischen war der Hotdog-Stand umlagert. Eine Familie parkte ihr Auto hinter Grandmas. Drei Kinder trafen auf Rädern ein.
»Sie werden nicht unter die Erde gebracht«, ächzte Quinn.
»Quinny.« Tante Dana ergriff begütigend ihre Hand.
Quinn schloss ganz fest die Augen. Sie versuchte, sich ihre Eltern vorzustellen. Sie hatte plötzlich solche Sehnsucht nach ihnen, dass ihr das Blut in den Adern gefror. Ringsum herrschte Stimmengewirr, aber sie versuchte, es auszublenden. Die Asche ihrer Eltern war auf dem Kaminsims, in Sicherheit, soweit sie ihnen diese zu bieten vermochte. Sie musste alles daransetzen, dass sie dort blieben, bis sie herausgefunden hatte, was ihnen wirklich zugestoßen war und ob sie freiwillig aus dem Leben geschieden waren.
Plötzlich hörte sie ein vertrautes Geräusch: Sams VW -Bus rumpelte die Straße entlang. Kaum hatte er den Wagen abgestellt und war ausgestiegen, als Quinn ihm auch schon entgegenlief. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, und sie konnte nicht aufhören zu weinen.
»Fahr mit mir raus«, flüsterte sie ungestüm.
»Aufs Meer? Jetzt?« Seine Augen waren groß hinter der Brille mit dem Goldrand. »Mein Boot ist nicht hier.«
»Wir haben die
Mermaid
.« Sie deutete auf das alte Segelboot – dessen neue Farbe gerade erst getrocknet war –, das auf dem Anhänger vor
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