Schilf im Sommerwind
bewirkt. Sie hatte ihn im Hafen aufgelesen und in dem Glauben bestärkt, dass er wichtig war. An manchen Tagen war sich Sam wie ein unerwünschtes Kind vorgekommen. Seine Eltern hatten ganz offensichtlich nicht aus Liebe geheiratet. Seine Mutter war Witwe gewesen, hatte eine starke Hand für Joe gebraucht, den sie mit in die Ehe brachte. Sein Vater, als LKW -Fahrer bei einer Hummer-Genossenschaft ständig auf Achse, hatte wohl geglaubt, er sei bereit, ein sesshaftes Leben zu führen. Wie sich herausstellte, hatte er sich geirrt.
Sam war das mittlere der Geschwister gewesen. Als Dana seinen Weg kreuzte, war sein Vater tot und seine Mutter ein zweites Mal Witwe. Dana gab ihm das Gefühl, gebraucht zu werden, seinen Beitrag zu leisten, als wäre der Segelkurs ohne ihn nicht das, was er war.
Er hatte es nie vergessen, trotz all der Jahre, die ins Land gegangen waren. Obwohl er als Achtjähriger nicht auf die Idee gekommen war, von Liebe zu sprechen, wusste er, dass schon damals alles angefangen hatte. Sam stand vom Tisch auf, ging zu seiner Koje, legte sich hin und lauschte dem Regen. Das Boot schaukelte unter ihm.
Er hatte sich noch nie so einsam gefühlt auf seinem Boot – das ihm sowohl Zuhause als auch treue Begleiterin war. Aus dem Regal über seinem Kopf zog er ein altes Notizbuch heraus. Ein dickes Heft mit Eintragungen, die weit zurückreichten. Darin waren unter anderem auch Rohfassungen von Briefen enthalten, die er mit siebzehn oder achtzehn geschrieben, aber nie abgeschickt hatte. Und zwei Fotos, aufgenommen an einem Inselstrand, als er neunzehn Jahre alt gewesen war. Sie legten beredtes Zeugnis ab, warum er die Briefe nie abgeschickt hatte, die zu schreiben ihm so wichtig erschienen waren.
Der Wind und der Regen waren lächerlich im Vergleich zu dem Sturm, der in seinem Innern tobte.
Das Wiedersehen mit Dana hatte diesen Sturm entfacht. Sam las die Briefe wieder und wieder. Er betrachtete die Fotos; rein äußerlich hatte sie sich in all den Jahren kaum verändert, aber auf einer tieferen Ebene, in ihrem Innern, hatte sich ein nachhaltiger Wandel vollzogen. Ihr Leben war ein einziges Trauerspiel. Sam spürte es bis ins Mark, als sei das Unwetter in der Lage, auf den Schwingen des Sturmes die Wahrheit zu verbreiten.
Er schloss die Augen, dachte an die Zeit vor den Briefen und Fotos, an den Tag, als sie ihn mit Lily aus dem Hafenbecken von Newport gezogen hatte. Damals hatte er in seiner kindlichen Dankbarkeit gelobt, dass sie sich nie Sorgen machen müsse, dass er sie bis in alle Ewigkeit beschützen würde. Sie hatte gelacht, ihn ihren Ritter genannt.
Niemand erwartete, dass solche Versprechen eingehalten wurden. Dana war jung und Sam ein kleiner Junge gewesen. Aber er hatte es nicht vergessen. Egal, wie sie darüber denken mochte und ob sie es ernst genommen hatte: Sam war es ernst damit gewesen.
Und er wusste, dass sich nun eine Gelegenheit bot, das Versprechen einzulösen.
Dana Underhill brauchte ihn.
Er erkannte es an der Leere in ihren Augen, an der Unfähigkeit zu malen, an der Verzweiflung ihrer Nichte. Quinn zu helfen war ein Anfang, aber er wusste, dass er es in Wirklichkeit für Dana tat.
Er würde ihr helfen, und wenn er alles niedermähen musste, was sich ihm in den Weg stellte: gesunden Menschenverstand, die Gebote der Schicklichkeit, den Sam, der er bislang gewesen war. Er hatte schon vor langer Zeit eine enge Beziehung zu ihr entwickelt. Vielleicht war ihm jetzt, in der Koje seines Segelbootes, zum ersten Mal bewusst, wie groß sein Bedürfnis war, etwas für sie zu tun. Jedes Mädchen, jede Beziehung hatte er an ihr gemessen. Er hatte sie angebetet, sein großes Idol, unerreichbar wie eine Göttin.
Die Zeiten waren vorbei. Göttinnen weinten nicht, und ihre Welt wurde durch den Tod einer Schwester nicht aus den Angeln gehoben. Sie brauchten zum Malen nur das Meer und den Himmel, die Farben auf ihrer Palette trockneten nie ein. Auch wenn Dana es nicht wusste, er würde ein Auge auf sie haben. Sie brauchte ihn, so wie er sie gebraucht hatte, und sobald das Unwetter vorbei war, würde er sie retten.
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11
E ndlich war der große Tag gekommen. Allie war genauso aufgeregt wie am Weihnachtsmorgen vor der Bescherung. Quinn sah genervt zu, wie sie sich zwei Mal umzog, unfähig zu entscheiden, welche Kleidung perfekt zum Hotdog-Stand passte. Als sie dann auch noch Lilys ›Küss-die-Köchin‹-Schürze aus der Speisekammer anschleppte, kostete es Quinn einige Überwindung, ihr
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