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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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dem großen Felsen. Und sie dachte: Wieso hat er nicht verstanden, dass der Tod den einen Menschen dazu treibt, sich im Bett zu verkriechen, während ein anderer ein ganzes Jahr lang immer wieder auf einem Felsen sitzt?
    Im Regen auf einem Felsen zu sitzen und um eine Vision von Lily zu beten machte in ihren Augen mehr Sinn als der Gedanke, einen Pinsel in die Hand zu nehmen, zu arbeiten und so zu tun, als fände man in eine Normalität zurück, die den Vorstellungen eines anderen Menschen entsprach. Quinns Verhalten ist völlig natürlich, dachte Dana, als sie die kleine dunkle, unbeugsame Gestalt ihrer Nichte betrachtete.
     
    Einsamkeit war für Sam schon seit langem kein Thema mehr gewesen.
    Als Kind hatte er das Gefühl gut gekannt. Sein Bruder war aus dem Haus, seine Eltern hatten andere Sorgen, und so blieb er weitgehend sich selbst überlassen. Während er in der Kajüte seiner Cape Dory saß und der Regen das Deck peitschte, versuchte er, sich auf seine Papiere zu konzentrieren und die Frage zu verdrängen, warum er sich plötzlich wieder so abgrundtief einsam fühlte.
    Das Leben hatte es gut mit ihm gemeint, keine Frage. Er war College-Professor in Yale, einer altehrwürdigen Institution. Die langen Jahre des Studiums und der Recherchen hatten zu einer Position in Forschung und Lehre geführt, um die ihn viele beneideten. Außerdem würde Joe ein Jahr lang eine Gastprofessor in Yale annehmen, wenn er seine letzte Schatzsuche vor den Küsten Griechenlands und Siziliens beendet hatte. Die Brüder würden nicht nur zusammen arbeiten, sondern, was noch wichtiger war, mehr als ein paar Wochen am selben Ort zusammen verbringen.
    Hatte er nicht alles, wovon ein Mensch träumen kann? Während Sam am Tisch saß und sich vom Meer schaukeln ließ, zählte er im Geiste weitere Gründe auf, warum er sich glücklich schätzen durfte.
    Die Frauen liebten ihn. Unerklärlich, aber wahr. Nach Jahren im Schatten seines älteren, attraktiveren Bruders wurde er plötzlich umschwärmt. Vielleicht lag es an dem Muskeltraining. Oder an dem Lauftraining, das er jeden Tag absolvierte. Aber wahrscheinlich bestand das Geheimnis darin, dass er seinem Bruder nicht mehr nacheiferte. Er hatte sich so akzeptiert, wie er war, und sich den Gedanken aus dem Kopf geschlagen, dass er Joe jemals das Wasser reichen könnte.
    Seine Arbeit machte ihm Spaß – nein, er liebte sie. Die Lehre im Rahmen seiner Professur war nur die eine Seite der Medaille. Die andere war die Forschung, die darin bestand, Daten zu sammeln und zu analysieren und stets auf dem neuesten Stand des Wissens zu sein, was die Meeressäugetiere betraf. Darüber hinaus schrieb er gerade ein Buch über das emotionale Verhalten der Delphine, über ihre Sozialbeziehungen und ihre Kommunikation untereinander und – seltsamerweise – auch mit den Menschen, die ihr Verhalten studierten.
    Während Joe seinen akademischen Hintergrund als Ozeanograph bei der alljährlichen Erkundung ferner Weltmeere und auf der Suche nach gesunkenen Schiffen und verborgenen Schätzen nutzte, hatte Sam vor kurzem begonnen – in den letzten beiden Wintern –, das Meer vor der Küste von Bimini zu erforschen. Dort hatte er, in dem klaren Gewässer rund um die Bahamas, Bekanntschaft mit einer Familie gefleckter Delphine geschlossen. Della, Minnie und Sugar: sie hatten ihn im wahrsten Sinne des Wortes in ihrer Mitte willkommen geheißen und ihn über die sandigen Untiefen ins Riff hineingeführt. Er hatte ihren Standort mit Hilfe eines Senders und der Forscher und Fischer aus der Umgebung bestimmen können, und die Tonbandaufnahmen von ihren Gesängen und Rufen leisteten ihm während der langen Nächte im Norden Gesellschaft.
    Warum fühlte er sich also einsam? An dem Unwetter mitten im Sommer konnte es doch wohl nicht liegen.
    Er kam sich wieder vor wie der kleine Junge, von seinem Bruder im Stich gelassen und in Sorge um seine Mutter, der sich auf den Stegen des Ida-Louis-Yachtclubs herumgetrieben hatte, in der Hoffnung, Freunde zu finden. Regen prasselte gegen die Bullaugen, übertönte Dellas Stimme auf dem Tonbandgerät. Das Licht flackerte, und er zuckte zusammen. Als Kind hatten ihm Unwetter Angst eingejagt. Seine Mutter, die oft Überstunden machen musste, war nie da gewesen, um ihn zu trösten. Der einzige Lichtblick war Dana gewesen, seit jenem ersten Morgen auf dem Anlegesteg, als sie ihm angeboten hatte, ihn in ihren Segelkurs aufzunehmen.
    Damit hatte sie einen grundlegenden Wandel

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