Schillerhoehe
Wiese vor der Plattform lag. Er stand schwankend auf und tor kelte hinunter, um es zu retten. Durch den Wurf hatte Rieker einen Anruf ausgelöst. Michael Hörguttsu, ein ehemaliger Klassenkamerad, der inzwischen als Not rufpfarrer im nahen Ludwigsburger Stadtteil Hoheneck arbeitete, wurde dadurch geweckt.
»Hallo, wer ist da?«, rief der Seelsorger.
Norbert Rieker krabbelte auf allen vieren durch die Wiese, um sein Handy zu finden.
»Ich kann Sie nicht hören, bitte sprechen Sie lau ter«, forderte Hörguttsu, der die Stimme Riekers nur undeutlich vernahm.
»Alle Leinen los!«, brüllte Rieker. »Wo ist die alte Landratte denn geblieben?«
Michael Hörguttsu konnte die Stimme nicht zuord nen. Wie auch – er hatte schon 20 Jahre keinen Kontakt mehr zu seinem ehemaligen Klassenkameraden. Aber er dachte an einen Notfall. Vielleicht steckte jemand in der Klemme, er durfte jetzt nicht einfach auflegen.
»Hallo, hallo, hallo«, tönte er in das Handy, das Rie ker mühsam tastend immer noch suchte. Über ihm drehte sich der klare Sternenhimmel, er fiel auf den Rücken, rappelte sich wieder auf – und kotzte, nur etwa einen Meter vom Mobiltelefon entfernt.
Hörguttsu erkannte das Geräusch, das ihn anekelte. Er blieb aber dran. Schließlich könnte jemand an dem Erbrochenen ersticken. »Hören Sie, wer immer Sie auch sind, ich muss wissen, wo Sie sind, um Ihnen helfen zu können.«
Der sturzbesoffene Bürgermeister lag inzwischen neben dem Mobiltelefon und war eingeschlafen. Hör guttsu sah ein, dass er nicht mehr für den Anrufer tun konnte, legte auf und schlief bald darauf ebenfalls ein.
Der Schlaf Riekers dauerte aber nicht lange. Eine Gruppe Jugendlicher näherte sich ihm. Die lauten Rufe und Gesänge weckten den schlummernden Schultes. Er fand sein Handy, steckte es ein und ging zum Hotel. Er fühlte sich jetzt wieder einigermaßen klar im Kopf und wollte mit Gianna reden. Rieker trat durch die Seiten tür ein, die er immer benutzte, um heimlich zu ihr zu gelangen. Sie stand an der Rezeption, hatte sich in eine Ecke gestellt und telefonierte mit gepresster Stimme. Rieker registrierte, dass sie ihn nicht sehen konnte.
»Nein Utz, wir müssen vorsichtig sein, er hat mich schon im Verdacht, das mit der Kamera mitgemacht zu haben.«
Die Worte seiner Geliebten empörten Rieker. Er versteckte sich hinter einer Sitzgruppe im Entree, um weiter zu lauschen. Ihre Stimme wurde etwas lau ter.
»Du, ich versuche ihn ja schon hinzuhalten, aber was soll ich machen, wenn er wegen der Aufnahme im Zimmer weiter bohrt?«
Rieker begriff, dass es um ihn ging.
»Bist du sicher, dass er überhaupt an die Hand schrift kommen kann? Vielleicht sollten wir die ganze Geschichte abbrechen und ihn in Ruhe lassen.«
Aha, dachte Rieker. Das also ist deine große Liebe. Was für ein Narr er doch war. Sie steckte mit irgendei nem Kunstsammler, wenn nicht gar Mörder unter einer Decke, mit dem sie genauso herumhurte wie mit ihm. Wahrscheinlich hatte sie sich systematisch an ihn ran gemacht und wollte ihn jetzt ausnehmen wie eine Weih nachtsgans. Erst die Sache mit der Kulturbühne, dann dieser Erpressungsversuch. Was für eine Schlampe!
»Also gut, Utz, vielleicht hast du recht. Ja – ich bleibe ruhig. Ja, wir machen weiter.«
Rieker hatte genug mitbekommen. Er würde die not wendigen Schritte einleiten.
»Wie gehts dir im ArtHotel?«, hörte er sie den Anrufer fragen.
Sie lächelte – so, wie sie ihm immer zugelächelt hatte, wenn sie miteinander geschlafen hatten, wenn sie ihn empfing, wenn er ging. Ihr Lächeln, es hatte ihn durch den Tag begleitet, es hatte ihn von Anfang an beseelt. Und jetzt? Alles nur Fassade, er war Mittel zum Zweck. Sie hatte irgendeinen Scheißkerl, der im ArtHotel seine Barthaare ins Waschbecken fallen ließ und wahrscheinlich ein furchtbar schlechtes Aftershave benutzte. Eins, das zu ihr passte. Drecksnutte!
»Ja, ich liebe dich auch, Utz.«
Natürlich, du liebst jeden, von dem du denkst, er könnte dir Geld in den Arsch schieben. Rieker trank einen kräftigen Schluck aus der Flasche, die er immer noch bei sich hatte und die immer noch nicht leer war. Liebe, weißt du überhaupt, was das ist? Er dachte kurz an Paula und seine Kinder. Wie konnte er sie nur allein lassen. Nein, nicht nur sein Beruf hielt ihn fern. Er war es selbst, der sich ständig Türen offen hielt, um nicht Nähe
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