Schillerhoehe
einen Anruf bei Littmann erfuhr sie, dass sich Selldorf schon zwei Mal vor Gericht verantworten musste. Steuerhinterziehung und Fahrerflucht lauteten die Vorwürfe, aber jedes Mal hatte er seinen Kopf aus der Schlinge ziehen können. Freispruch aus Mangel an Beweisen, hatte der Computer des Landeskriminalam tes ausgespuckt. Kein Stoff, aus dem Mörderbiografien gestrickt sind, sagte sich die Kommissarin. Aber Dol lingers Sekretärin Ilse Bäuerle hatte erzählt, dass Sell dorf einen beträchtlichen Teil des ArchivJahresbudgets für Nachlassaufkäufe in Anspruch nahm. Die Sekre tärin hatte auch keinen Hehl daraus gemacht, dass sie den überheblich auftretenden Lebemann nicht ausste hen konnte und ihm zutraute, einen Teil des Geldes in die eigene Tasche zu wirtschaften.
Nach einer schlaflosen Nacht frühstückte Norbert Rie ker allein und im Stehen. Seine Frau und die Kinder lagen noch im Bett. Riekers Kopf brummte, drei Aspi rin, zwei Pötte Kaffee und ein halber Liter Orangen saft brachten ihn jedoch wieder auf Touren. Er zog die Joggingschuhe an und drehte eine Runde entlang der Felder oberhalb des nahen Stadtteils Hörnle. Der Him mel zeigte sich grau in grau, und er schleppte sich die Strecke entlang. Immer wieder dachte er an Gianna und ihre krumme Tour. Vielleicht würde es reichen, mit die sem Fremden, der offenbar im ArtHotel residierte, ein ernstes Wörtchen zu reden. Dass er körperlich unter legen sein würde, glaubte er nicht. Er brachte stattliche 90 Kilo auf die Waage, trug den schwarzen Gürtel im VollkörperkontaktKarate und hatte vor niemandem Angst. Wenn der Mann eine Schusswaffe hatte, wäre er ihm ausgeliefert, aber er musste ihn ja nicht in dessen Zimmer treffen. Am besten würde es sein, ihn im Foyer abzupassen.
Rieker duschte, zog sich um und fuhr ins ArtHo tel. Er ging zur Rezeption, um seine Recherchen zu beginnen.
»Grüß Gott, ich möchte meinen alten Schulfreund Utz überraschen, hab gehört er ist in Ihrem Haus am Wochenende zu Gast. Stimmt das wohl?«
Ein junger Mann, vermutlich der Juniorchef, lächelte. »Ich schaue eben kurz nach, wie lautet der volle Name?«
»Äh ja«, stammelte Rieker, »jetzt fällt er mir doch gerade nicht ein. Ach, helfen Sie mir doch bitte. Ich glaub, ich bin am Verkalken.«
»Ich habe hier einen Utz Selldorf, Zimmer 309. Soll ich Sie ankündigen?«
»Das wird nicht nötig sein, ich möchte ihn ja über raschen, bitte verraten Sie ihm nichts. Ich warte im Foyer.«
Er versteckte sich hinter einer Zeitung. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie ein braun gebrann ter Herr mittleren Alters in einem Markenanzug an die Rezeption trat. Er gab den Schlüssel mit der Num mer 309 ab. Der junge Mann an der Rezeption blickte kurz zu ihm herüber, aber Rieker legte einen Zeige finger auf den Mund und gebot ihm damit, erneut zu schweigen. Der Bürgermeister sah, wie Selldorf seine beiden Koffer absetzte und mit einer ECKarte seine Rechnung beglich. Als sich der Literaturagent her umdrehte und seine Koffer nehmen wollte, fiel ihm offenbar ein, dass er etwas vergessen hatte. Er ließ sich erneut den Zimmerschlüssel geben, der junge Mann folgte ihm nach oben. Riekers Blicke hingen wie gefesselt an den beiden Koffern, die herrenlos vor der Rezeption standen. Ganz schön leichtsinnig, dachte er. Schnell begriff er, dass der Erpresser ihm damit eine Chance gab. Rieker ging zu den Koffern und nahm einen mit in die nahe Toilette. Er schloss sich ein und öffnete den Koffer, in den er die Hand schrift von Wilhelm Tell hineinlegte. Dann schlich er sich klammheimlich hinaus und spazierte wieder auf Nebenwegen zurück zu seinem Haus in der Dann eckerstraße.
Rieker saß keine zehn Minuten in seinem Arbeits zimmer, als seine Frau mit dem Telefon in der Hand eintrat. »Herr Steinhorst möchte dich sprechen.«
»Ja, hier Rieker.«
»Grüß Gott, lieber Parteifreund Rieker, hier ist Wal ter Steinhorst, haben Sie sich wieder ein wenig abge regt?«
Rieker überlegte, was er sagen sollte. Wahrschein lich war es am besten, den Ball flach zu halten. »Ich bin wieder etwas runtergekommen, ja.«
Beide schwiegen einen kurzen Moment.
»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht angreifen!«, brach es aus Rieker hervor.
»Ach, wissen Sie«, erwiderte Steinhorst, »Leute wie ich haben ein dickes Fell, vielleicht macht das die Zahl der Jahre, aber ich mache mir ein bisschen
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