Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
Tage wurden länger. Die Hausarbeit und die Arbeit im Kontor wurden zu einer gewohnten Beschäftigung, und ich verstand inzwischen, warum dies kein langweiliges Jahrhundert war, trotz Entbehrungen wie Kino, Video und Fernsehgerät.
Die Tage waren angefüllt mit Aktivitäten, und wir genossen die freien Sonntage intensiv. Wir trauten uns zunehmend, uns in der Öffentlichkeit zu bewegen, obwohl wir weiterhin den direkten Gesprächskontakt vermieden. Unsere oft merkwürdige Satzstellung und die verräterischen neumodischen Worte hätten uns zum Gesprächsstoff gemacht. Einmal besuchten wir ein Kaffeehaus. Doch hier war es erst recht gefährlich, denn es wurde vor allem über Geschäfte gesprochen, und die neuesten Gerüchte hatten dort ihren Ursprung.
Das Mädchen, das wegen Kindsmord im Gefängnis saß, wurde tatsächlich gehenkt. Wir lasen davon in der Zeitung, und mir war augenblicklich schlecht geworden. Ein paar unserer Dienstboten hatten sich das makabre Schauspiel angesehen, aber Anna hatte ihnen verboten, im Haus darüber zu sprechen.
Das arme Mädchen hatte ein uneheliches Kind geboren und es aus purer Verzweiflung erwürgt. Ich hatte Schwierigkeiten, dies nachzuvollziehen. Selbst zu dieser Zeit hätte sie es einfach vor die Kirchentür legen können, und es wäre versorgt worden. Doch Barbara erklärte, sie sei erst zwölf Jahre alt und nicht in der Lage gewesen, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Mit solchen Problemen saßen die Mädchen nicht nur in dieser Zeit völlig allein da. Doch sollte man ein Kind dafür mit dem Tode bestrafen?
Jack wollte mich ablenken, und wir machten einen ausführlichen Spaziergang in der lauen Märzsonne. Wir gingen den Main entlang. Das Ufer wurde gesäumt von Wohnhäusern und Werkstätten der Töpfer, Gerber und Fischer. Die Stadt hinter uns lassend, schlenderten wir am Mainufer entlang. Hier draußen standen prächtige Gartenhäuser und die Hütten der Bleichgärtner. Das Bleichen durch Sonnenlicht war die gängigste Methode des Weißens von Leinen, und die weit ausgebreiteten Tücher blendeten im Sonnenlicht wie Schneereste.
In den Gartenhäusern, von denen eines Anna gehörte, verbrachten Bankiers und Großkaufleute den Sommer. Ständig hier draußen zu wohnen, war verboten. Trotzdem begann mit der Gartenhauskultur die Auflösung der uralten Verpflichtung, innerhalb der schützenden Stadtmauern zu leben. Bald würde die Stadtmauer, einst starkes Bollwerk gegen Feinde, zu einer Touristenattraktion degradiert werden. Auf einer Bank unter einer alten Eiche, die ihre Äste weit ausladend über unseren Häuptern ausbreitete, rasteten wir und beobachteten die kleinen Boote auf dem Wasser.
„Manchmal denke ich, wir machen hier nur Urlaub“, sinnierte Jack und sah einem angestrengten Ruderer nach, der sein kleines kanuartiges Boot vor einem großen Frachtschiff in Sicherheit zu bringen versuchte.
„Mir kommt es eher wie ein nicht enden wollender, sehr realistischer Traum vor“, entgegnete ich.
Der Ruderer war unbeschadet an dem Frachtschiff vorbeigekommen und gönnte sich eine Pause. Wohl erschöpft , ließ er das Boot mit der Strömung treiben und lehnte sich in seinem Kanu zurück. Sicher hatte er einen gehörigen Schrecken bekommen.
„Leider wissen wir nicht, ob es dein Traum ist oder meiner“, wandte Jack ein und sah mich an.
„Wenn schon, dann bitte meiner“, bat ich, und wir lachten beide.
„Gott sei Dank ist es keiner“, sagte Jack grinsend und tätschelte meinen Oberschenkel.
Sollte ich eines Tages tatsächlich in einem mexikanischen Krankenhaus aufwachen und feststellen, dass es doch ein Traum war und Jack mich wie eine Fremde behandeln würde, wüsste ich in der Tat nicht, wie ich reagieren würde.
„Ja, Gott sei Dank“, stimmte ich deshalb zu. „Ich bin sehr froh, dass du den Kristall berührt hast.“
Jack betrachtete mich ernst, als überlegte er, ob er meine Meinung teilte. Doch dann lächelte er und zog mich an sich, um mich zu küssen.
„Ich auch“, sagte er überzeugend genug.
Wir verweilten noch etwas unter der Eiche und entschlossen uns schließlich dazu, den Rückweg anzutreten, wobei wir bald wieder eines der Stadttore passieren mussten. Ein Soldat in voller Montur stellte sich uns entschlossen in den Weg. Jeder, der die Stadt betreten wollte, wurde notiert. Name und Quartier mussten angegeben werden. Die Zollabgabe für eine Person war nicht teuer, doch wollte man mit der Kutsche hinein, konnte es recht deftig werden.
Ich
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