Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
geht auch, während ich singe.“
Die Erleichterung war enorm. Ganz allein hätte ich mich nicht getraut.
Ich stellte zehn Kerzen im ganzen Raum auf und entfachte im Kamin ein Feuer. Es war zwar warm, doch ich wollte die Flammen zur Konzentration benutzen, wie ich es schon einmal getan hatte. Jack hatte versichert, es sei ganz in Ordnung so. Jeder hätte eine andere Art der Entspannung, und es gäbe kein Richtig oder Falsch.
Karin hatte den Auftrag, auf Anna zu achten, damit sie uns nicht stören oder gar hören konnte. Kurzerhand hatte sie sich selbst nebst Anna bei Johannes eingeladen, und die meisten Angestellten nahmen heute einen freien Abend. Barbara war im Hospital und hatte uns viel Glück gewünscht.
„Bist du so weit?“, fragte Jack.
Ich saß im Schneidersitz vor dem Kamin, und die Hitze brannte auf meinen Wangen. Ich stöhnte leise.
„Ich würde ja gern das Fenster öffnen und die Vorhänge aufziehen, aber dann kann uns jeder, der zur Toilette geht, sehen und hören“, sagte Jack bedauernd.
„Es ist schon in Ordnung, danke. Ich bin nur nervös.“
Anette begann leise zu trommeln, und ich schloss die Augen. Jacks Stimme schwang tragend durch den Raum, und mir wurde ein bisschen schwindelig. Ich rutschte einen Meter vom Kamin ab und saß nun zwischen den beiden. Meinen Blick auf die züngelnden Flammen gerichtet, lauschte ich der Musik und versuchte mich zu entspannen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, mich hinlegen zu müssen. Anscheinend brauchte ich die Flammen heute nicht. Ich lehnte mich nach hinten, doch dann fiel mein Blick auf Jack, und ich legte meinen Kopf in seinen Schoß, auf seine gekreuzten Beine. Er sah lächelnd auf mich herab, ohne seinen Gesang zu unterbrechen. Nun konnte ich mich völlig entspannen. Ich legte meine Hände auf den Bauch und schloss die Augen.
Das Lied war wunderschön, und nach all den Geschichten, die Jack mir erzählt hatte, liefen unwillkürlich Tränen aus meinen Augenwinkeln. Kitzelnd kullerten sie mir bis in die Ohren. Ich schniefte ein bisschen, doch die beiden ließen sich nicht irritieren.
Ich ließ mich eine ganze Weile vom Trommelrhythmus davontragen, und langsam bildeten sich Gesichter vor meinem geistigen Auge. Ich erkannte meine Mutter und lächelte sie an. Sie lächelte zurück. Ich empfand eine große Liebe zu ihr, und der Schmerz der Trennung durchbohrte mein Herz. Ich teilte ihr in Gedanken mit, dass ich noch lebe und dass ich wieder zu ihr nach Hause kommen würde. Ob sie mich verstand, konnte ich nicht sagen. Dann war sie verschwunden, und ich sah Jack. Ich sah seine ganze Erscheinung vor mir stehen, als würde er nicht mehr hinter mir sitzen.
Er machte ein angespanntes Gesicht, und ich fragte ihn in Gedanken, was los sei. Er sagte, er könne den Indio nicht finden, woraufhin ich mich suchend umsah. Die Umgebung erinnerte an die nordamerikanische Prärie, und ich fragte mich, ob der zentralamerikanische Indio den Weg hierher finden würde. Jack lachte und erklärte, dass der Indio längst über Zeit und Raum hinweg sei und ohne Körper sowieso keine Reiseprobleme haben würde, was in unserem momentanen Zustand auch für uns galt. Ich nahm es als selbstverständlich hin, dass Jack meine Gedanken lesen konnte. Auch ich konnte die seinen lesen, denn er sprach, ohne seine Lippen zu bewegen.
Plötzlich war Jack nicht mehr zu sehen. Vielleicht sucht er woanders, dachte ich und sah mich in der Gegend um. Jäh schrak ich zusammen.
Unvermittelt war das Gesicht des Zentralamerikaners direkt vor mir erschienen.
„Du hast mich erschreckt“, sagte ich vorwurfsvoll. Er lächelte, und ich las seine Gedanken.
„Du suchst meine Hilfe, das ist schön. Ich habe dich schon lange beobachtet. Auch wenn du es noch nicht verstehst, aber du musst wieder nach Hause zurückkehren und den Kristall zerstören.“
„Ihn zerstören?“, wiederholte ich entgeistert.
„Ja. Er wird in falsche Hände geraten. Das ist sehr gefährlich. Du hast selbst erlebt, wozu er imstande ist. Man könnte die Zukunft nach Gutdünken verändern.“
Sein Gesicht verschwamm leicht.
„Konzentriere dich intensiver“, befahl er mir.
Ich versuchte es.
„Müssen die anderen auch mit mir zurückgehen?“, wollte ich wissen.
„Nein, nur wenn sie es wünschen.“
„Du meinst, es reißt keine Löcher in das Raum-Zeitkontinuum oder so etwas, wenn sie praktisch in zwei Epochen existiert haben?“
„So ist es. Die Zeit läuft nicht chronologisch ab, wie es euch erscheint“,
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