Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
Besonders in den letzten Wochen hatte sie im Buch der Bücher viel Trost gefunden. Ich hatte Jack gebeten, ihr ein paar hilfreiche Worte über Leben und Sterben aus der Sicht seiner Indianerkultur mitzuteilen, aber er war wenig begeistert von der Idee, hätte sie ihn doch für einen heidnischen Wilden halten können. Autsch! Daran hatte ich nicht gedacht.
Er erzählte mir, seine Eltern lebten wie Weiße, doch seine Vorfahren hatten die großen Schlachten der amerikanischen Geschichte geschlagen und verloren. Seine Urgroßmutter hatte einen Weißen geehelicht. Das Schicksal wollte es, dass Jack sich in seinem Innern mehr als Indianer denn als Weißer fühlte. Als Kind hatte er es schwer, denn keine der beiden Seiten akzeptierte ihn als dazugehörig. Mit den Jahren entwickelte er einen Stolz, der zu den alten Zeiten der Sioux nicht hätte größer sein können.
Allein der Stolz auf seine wahre Herkunft ließ ihn die Ablehnung seines Vaters verkraften, der ihm schwer zusetzte, weil er nicht ertragen konnte, dass sein ältester Sohn am liebsten ein Indianer wäre. Das amerikanische Bild der Ureinwohner des eroberten Landes entsprach in keiner Weise dem eher romantischen Bild der Europäer. In meinem Jahrhundert waren sie noch immer eine Randgruppe, der es bis vor wenigen Jahren nicht einmal erlaubt war, die alte Kultur durch Tänze und Gesänge auszudrücken, geschweige denn, ihre eigene Sprache zu sprechen. Die gewaltsame Christianisierung sorgte dafür, dass in jedem Reservat eine oder mehrere christliche Kirchen standen. Das meist wirtschaftlich wertlose Land, das die Regierung ihnen zugewiesen hatte, genügte nicht für eine selbstständige Lebensweise. Arbeitslosigkeit und Frustration prägten noch heute die Atmosphäre in den Reservaten. So kamen die Ureinwohner schließlich zu dem zweifelhaften Ruf, lieber dem Alkohol zu frönen und von der Fürsorge zu leben, als nützliche Mitglieder der nordamerikanischen Gesellschaft sein zu wollen. Ein nicht enden wollender Teufelskreis.
Am Weihnachtsabend befassten wir uns nicht mit derlei Problemen, sondern waren heiter und gelassen, denn es ging allen gut. Wir hatten über Jack gelacht, der sich darüber wunderte, dass die Geschenke am Abend des 24. Dezember überreicht wurden und nicht, wie in Amerika, am Morgen des 25. Anna konnte der Konversation nicht folgen und winkte nur ab, hörte sie doch öfter die merkwürdigsten Dinge von uns.
Als es spät wurde, hoben wir die Gesellschaft auf, und ich ging mit schweren Schritten, ausgelöst vom schweren Rotwein, mit Jack und Anette in unser Zimmer. Sie wollte ihm ihr Weihnachtsgeschenk erst überreichen, wenn wir wieder unter uns waren. Aus gutem Grund, denn es handelte sich um eine heidnische Trommel, die sie auf dem Mark erstanden hatte. Der Handel per Schiff war wirklich enorm, es gab praktisch nichts, das man nicht auf dem Markt kaufen konnte.
Sie war wunderschön verziert und mit Tierhaut bespannt. Als Anette ihm das Geschenk übergab, liefen ihr Tränen über das Gesicht, und Jack nahm sie in den Arm. Wir wussten, wie schwer die Feiertage für sie sein mussten, ohne ihren geliebten Matthias, der höchstwahrscheinlich allein zu Hause saß und Tränen der Trauer vergoss, weil er glauben musste, Anette sei im zentralamerikanischen Dschungel verunglückt. Wie gerne hätte sie ihm heute ein Geschenk überreicht und ihn liebevoll umarmt.
So gut wir konnten, trösteten wir sie, und ich konnte mich gut in sie hineinfühlen. Ich hatte zwar Jack bei mir, doch ich vermisste meine Mutter, mit der ich bisher jedes Weihnachtsfest verbracht hatte. Den Gedanken an ihre Trauer wegen des Unglücks, bei dem sie ihre einzige Tochter verloren hatte, hatte ich bis jetzt verdrängt, doch bei Anettes Anblick kamen auch mir die Tränen, und Jack hatte alle Hände voll zu tun, uns beide zu trösten.
Ich umklammerte die Kette, die Jack mir gekauft hatte. Sie war aus echten Perlen und stand mir ganz fantastisch. Ich war überglücklich gewesen und hatte ihn stürmisch umarmt.
Von mir bekam Jack eine Pfeife und einen aromatischen Tabak in einer hübschen Dose geschenkt. Freudig registrierte ich seine Überraschung, weil ich mir gemerkt hatte, dass er einmal erwähnte, bei den Indianern immer gern ein Pfeifchen geraucht zu haben. Da er aus Rücksicht auf Anna mit dem Anrauchen gewartet hatte, bis wir allein waren, schlug er nun vor, sie im Kontor anzustecken. Als Anette, müde vom Wein, zu Bett gehen wollte, folgte ich Jack. Ich sah zu,
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