Schimmer (German Edition)
forschend an.
»Dein Tattoo«, sagte ich. »Der Engel mit dem Teufelsschwanz. Das Tattoo auf deinem Rücken. So kann ich Gedanken hören – es geht nur mit einer Zeichnung.«
»Willst du mir sagen, du kannst meine Gedanken lesen, weil ich mir heute Morgen dieses abwaschbare Tattoo draufgemacht hab?«
»Abwaschbar?«, wiederholte ich.
»Öh … ja. Dachtest du, das wär echt?« Bobbi stand auf und drehte sich herum, sie versuchte das Tattoo zu sehen, ohne Erfolg. Als ich hinschaute, sah ich zu meiner Überraschung nur ein paar Farbtupfer auf ihrer Haut, wo der Engel gewesen war, die Überreste des Bildchens, das vom Wasser und von den Chemikalien im Schwimmbecken abgewaschen worden war. Einen Augenblick lang war ich fast traurig, als mir klarwurde, dass die kurzlebige Stimme des Engels für immer verschwunden war. Aber vor allem war ich erleichtert. Erleichtert darüber, dass ich Bobbi jetzt auf ganz normale Weise kennenlernen konnte, oder überhaupt nicht, wenn wir nicht wollten.
Bobbi setzte sich wieder neben mich auf die Stufen ins Wasser und seufzte. »Mibs, hast du auch manchmal das Gefühl, dass dein Leben nur ein verrückter Traum ist, aus dem du eines Tages aufwachen wirst, um festzustellen, dass du eigentlich jemand ganz anderes bist?« Bobbi ließ sich eine Stufe tiefer gleiten, bis ihr das Wasser bis über den Mund ging, fast bis zur Nase. Sie stieß kleine Luftblasen aus und schloss die Augen. Wir ließen uns im Wasser, das von der Wasserschlacht der Jungs aufgewühlt war, auf und ab treiben.
Ich dachte lange über ihre Frage nach. Ich merkte, wie meine Haare langsam trockneten und meine Fingerspitzen und Zehen schrumplig wurden. Hätte jemand das Gleiche gestern zu mir gesagt, hätte ich vielleicht nur die Achseln gezuckt. Aber an einem Tag kann sich viel verändern. Sehr viel.
26. Kapitel
Als wir wieder nach oben kamen, lag Samson zusammengerollt unter dem Tisch im Jungenzimmer, er schlief wie ein Murmeltier und drückte die Slinky-Spirale aus dem Super-Supermarkt so ans Gesicht, dass er morgen früh bestimmt einen komischen Abdruck haben würde. Er hatte eine von den geblümten Tagesdecken abgezogen und sie wie ein Zelt über den Tisch gelegt. Die Betten hatte er Will und Fish überlassen, aber er hatte alle Kopfkissen in Beschlag genommen. Im Mädchenzimmer nahm Bobbi ein Bett ganz für sich allein und ich teilte mir das andere mit Lill, ihren großen Engelsfüßen und ihrem Holzfällerschnarchen.
Bevor Lill einschlief, seufzte sie. »Wenn etwas Schlechtes passiert, kann man nie wissen, ob es nicht doch sein Gutes hat«, sagte sie leise, und ich war mir erst gar nicht sicher, ob sie zu sich selbst sprach oder zu mir.
In der Nacht fand ich nicht leicht in den Schlaf. Die Matratze war hart und das Bettlaken war rau an meiner Wange. Lills Worte verfolgten mich, und meine Gedanken rasten wie ein Hamster im Rad. Ich dachte an die Jungs im Zimmer gegenüber und an Will, wie er mich im Pool geküsst hatte. Ich dachte an Lester auf seinem Feldbett im Bus und an Lill, die neben mir von ihm träumte. Ich dachte an Bobbi, die sich auf einmal wie etwas anfühlte, das einer Freundin schrecklich nahekam. Und dann dachte ich an den Obdachlosen hinter der Raststätte und an Poppa in seinem Bett im Salina Hope Hospital – und ich fragte mich, ob einer von den beiden jemals irgendetwas Gutes an dem Schlechten finden würde, das ihnen zugestoßen war.
Bis zu Poppas Unfall war das Schlimmste in meinem Leben der Tod von Oma Dollop gewesen. Ich erinnerte mich daran, wie ich auf Omas Beerdigung neben Poppa gestanden hatte, ich war zehn Jahre alt. Er hielt die ganze Zeit meine Hand. Dort auf dem Friedhof wurde Oma zur Ruhe gebettet, umgeben von Blumen und ihrer Familie. Viele, viele Einmachgläser mit Oma Dollops liebsten Radioaufnahmen waren auf und um und sogar in den Sarg gepackt worden, als wäre sie ein ägyptischer Pharao, der all seine Schätze mit sich nimmt.
Tante Dinah und Onkel Autry waren mit ihren Familien da, außerdem einige der verbliebenen Großonkel und Großtanten und Cousins und Cousinen zweiten Grades, die die Reise nach Süden bewältigen konnten. Selbst Omas Langfingerschwester Jubilee war da, allerdings hatte Momma ihren Schmuck gut versteckt und hielt ein wachsames Auge auf das Tafelsilber, als Jubilee ins Haus kam, um bei Oma Totenwache zu halten.
Omas Beerdigung war ohnegleichen. Momma und Tante Dinah saßen wie starke
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