Schimmer (German Edition)
ob in Lester noch irgendwo etwas von seiner eigenen Stimme zu finden war. Je mehr ich hinschaute und lauschte, desto klarer wie nur was wurde es, dass Carlene und Rhonda immer dann einen Dämpfer bekamen, wenn Lill Lester anlächelte oder etwas zu ihm sagte, während wir über den Highway fuhren.
Lill schien auf Lester wie die Sonne. Und auf seinen Armen mit den hochgekrempelten Hemdsärmeln verwandelten sich die bösen bewegten Gesichter der Frauen wieder in die dünnen schwarzen Striche lebloser Tattoos.
Vielleicht ist Lill wirklich ein Engel, dachte ich bei mir, vielleicht ist sie Lesters Engel, vom Himmel geschickt, damit sie die Stimmen aus seinem Kopf verscheucht.
Ich wandte den Blick von den Erwachsenen und suchte mir einen der wenigen Fensterplätze, die nicht mit Rissen übersät oder mit Pappkartons und silbrigem Isolierband bedeckt waren. Ich schaute hinaus, während wir rumpeldipumpel in Richtung Wymore zu Lesters nächster Lieferadresse fuhren, vorbei an endloser Landschaft aus grauen Maisfeldern. Hier gähnte die Erde und reckte sich, wurde grün an den Zehen der braunen stoppeligen Stängel von der Ernte des letzten Jahres. Es war Frühling und die ganze Welt wurde wieder lebendig. Die ganze Welt erwachte. Jetzt, dachte ich, müsste nur noch mein Poppa dasselbe tun.
27. Kapitel
Als wir in Wymore ankamen, ging in der großen Backsteinkirche an einer Nebenstraße der Tenth Street gerade der zweite Gottesdienst zu Ende. Lester parkte den Bus vor der Kirche und wartete, während Lill noch einmal seinen Schlips glättete und ihm Krümel vom Hemd fegte. Er strahlte unter Lills Fürsorge und seine Schultern machten nicht ruck und nicht zuck.
»So, und nicht vergessen, was wir besprochen haben«, sagte sie aufmunternd. »Sieh zu, dass du die Bibeln direkt an die Frau des Pastors ausliefern kannst. Eine Frau reagiert viel eher freundlich auf die Farbe Rosa.«
Lester nickte Lill zu und schien um mehrere Zentimeter zu wachsen, als sie ihm einen Kuss auf die Wange gab.
»Der soll dir Glück bringen«, sagte Lill und Lesters Gesicht nahm alle möglichen Rottöne an. »Du schaffst das schon.«
Lesters Mund mahlte, als ob er auf einem großen Stück von Bobbis Kaugummi herumkaute; er sah aus, als wollte er etwas zu Lill sagen und als wollten die Lippen ihm nicht gehorchen. Nach einer Weile streckte er den Arm aus und schüttelte Lill unbeholfen die Hand, als hätten sie soeben einen Vertrag geschlossen. Dann machte er sich auf den Weg, eine große rosa Bibel unter den Arm geklemmt und einen Glanz von Zuversicht um sich, der ihm passte wie ein neues Paar Schuhe. Er ging etwas steif, aber mit mehr Stolz, als ich ihm zugetraut hätte.
Lill knabberte an ihrer Nagelhaut, während sie ihm durchs Fenster nachschaute. Seit wir Lincoln verlassen hatten, hatte sie ihn gecoacht, ihm Tipps gegeben, wie er mit den Leuten reden sollte und wie er sich als Geschäftsmann darstellen konnte statt als kleiner Bote, den man nach Belieben herumschubsen und niedermachen kann. Jetzt war es an ihr, zappelig und nervös zu sein.
Während Fish und Will sich über die Sitze hinweg mit Papierkugeln bewarfen, die sie aus Lesters Zeitschriftenvorräten gebastelt hatten, setzten Bobbi und ich uns zu Lill. Ich brauchte Lill nichts mit meinem glänzenden Silberstift auf die Haut zu malen, um zu wissen, dass sie bis über beide Ohren in Lester verliebt war. Ich konnte es zwar nicht verstehen, aber ich dachte mir, dass es Happy Ends wohl in allen Formen und Größen gab.
Es dauerte nicht lange, da kehrte Lester zurück, strahlend übers ganze Gesicht. Er kam die drei Stufen hoch und stieß einen Freudenschrei aus. Er machte einen Hüpfer, bei dem er die Hacken in der Luft zusammenschlug, beugte sich zu Lill hinab, nahm ihr Gesicht in die Hände und drückte ihr einen langen, festen Kuss auf den Mund. Lill schlang ihm die Arme um den Nacken und erwiderte seinen Kuss so heiß und heftig, dass wir alle den Blick abwandten – lieber alles andere angucken, nur nicht das.
Mit einem unwirschen Schaudern streckte Bobbi die Zunge raus, rückte von dem glücklichen Paar ab und setzte sich auf die andere Seite des Ganges, doch mir entging nicht das Lächeln, das blitzartig aufleuchtete, wie ein Gefühlsriss in ihrer Teenagerrüstung.
Als Lester die Lippen von Lill löste, straffte er sich und verkündete: »Nicht nur, dass der Pastor hier die Lieferung annimmt, der Frauenverein von Wymore will
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