Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
dem TV-Schirm kündigt Jane die erste Hochrechnung an. Wir erheben uns und bleiben auf dem Weg zum Sofa mitten im Raum stehen. Sitzen will in diesem Moment niemand, auch wenn es ja eigentlich gar nicht so spannend werden kann. Johnson folgt nur zögerlich, Frank legt seinen Arm um Wesleys Hüfte. Wir halten unsere leeren Likörgläser in der Hand.
Meine ehemalige Mitschülerin Jane nickt aufgeregt in die Kamera: »Und es sieht zum aktuellen Zeitpunkt tatsächlich nach einer faustdicken Überraschung aus …«
Das dreifarbige Kuchendiagramm zeigt zwei große Stücke und ein kleines. Unser amtierender Bürgermeister Peter Stanton liegt gleichauf mit dem schlecht rasierten Marvin Chapmen. »Na bitte!« , ruft Johnson und klatscht in die Hände. Die anderen schweigen. Ich spüre, dass mich Wesley von der Seite anblickt.
Jane spricht aus dem Bildschirm: »Sollte sich dieser Trend bestätigen, dann hätte Marvin Chapmen einen hauchdünnen Vorsprung und könnte Peter Stanton als Bürgermeister von CobyCounty ablösen. Wir sind gleich zurück mit ersten Stimmen und Analysen.«
Als die Werbeclips beginnen, schaltet Wesley den TV-Ton wieder ab. Er geht zum Tisch und gießt sich einen weiteren Pfefferminzlikör ein. »Man hat das ja irgendwie kommen sehen« , sagt Frank und schaut zu Wesley, aber Wesley ignoriert ihn. Franks weißes Hemd kommt mir jetzt noch durchscheinender vor, vermutlich weil er direkt unter der Deckenbeleuchtung steht.
»Und mit mir freut sich jetzt keiner!?« Johnson spricht viel lauter als nötig. Amy und Max verneinen, ich versuche zu schlichten: »Dieser Marvin wird sicher eng mit dem alten Bürgermeister zusammenarbeiten.«
»Das glaubst du doch selbst nicht.«
»Natürlich glaube ich das. Ich denke, das ist unsere Art der Politik in CobyCounty. Man profitiert voneinander.«
»Das hast du in der Schule gelernt, was?«
»Zumindest war ich auf einer Schule.« Mir kommt diese Antwort zwar nicht besonders schlagfertig vor, jedoch macht sie Johnson sofort aggressiv. Es gab mal das Gerücht, dass er auch auf die School of Arts and Economics wollte, es aber nicht geschafft hat. Er reißt seine Augenbrauen nach oben, doch bevor er etwas sagen kann, reicht ihm Wesley einen Pfefferminzlikör: »Trink das, Johnson. Auf deinen Marvin Chapmen.« Johnson ist kurz irritiert, trinkt den Likör dann aber in einem Zug, bevor Wesley sagt: »Bist du sicher, dass du noch bleiben willst? Meine Mum würde sagen, dass deine psychosomatischen Energien hier unnötig heißlaufen.« Wesley versucht selbstironisch zu lächeln, wird aber gleich wieder ernst.
»Du wirfst mich aus deiner Wohnung, weil ich anderer Meinung bin als ihr?«
»Nein. Ich glaube nur, dass es mehr Sinn macht, wenn wir uns bald mal zu zweit treffen.«
Die beiden Freunde, die als Teenager manchmal miteinander geschlafen haben, stehen nun als späte Jugendliche dicht voreinander und blicken sich an. Ich schiebe meine Hände in die Hosentaschen, ziehe sie aber gleich wieder heraus.
»Okay. Dann gute Nacht.« Johnson blickt noch einmal durch die Wohnung, jedem Einzelnen brutal ins Gesicht, dann öffnet er die Tür. Im Treppenhaus sind seine Schritte zu hören. Amy und Max halten ihre Arme verschränkt. »Tut mir leid« , sagt Wesley.
»Die sich hinziehende Hochbahnreparatur wird als ein möglicher Grund für das Scheitern der Wiederwahl angegeben.« In den folgenden Stunden der Berichterstattung kommen Experten und Kandidaten zu Wort, zwischendurch viel Musik. Der noch amtierende Bürgermeister spricht besonnen und gefasst in die Kameras, er wünscht seinem Nachfolger alles Gute und kündigt an, sich nun für eine Weile aus seiner Heimatstadt zurückzuziehen: »Ich glaube, es könnte für mich an der Zeit sein, mal auf Reisen zu gehen.« Er trägt ein neues, dreifarbiges Logo-T-Shirt, das ihn juvenil und lustig erscheinen ließe, wären da nicht diese tiefen, dunklen Augen, die ganz automatisch immer etwas traurig aussehen. Ich würde ihn jederzeit wiederwählen, denke ich angetrunken auf Wesleys Couch sitzend. Frank scheinen die vielen Pfefferminzliköre nicht bekommen zu sein, er ist im Laufe der Nacht immer blasser geworden und hat sich bereits in Wesleys Schlafzimmer zurückgezogen. Wesley lächelt wenig nachvollziehbar vor sich hin, und Max schläft mit dem Gesicht an Amys Schulter gelehnt.
Als mich die Sonne weckt, liege ich unter einem hellgrauen Laken auf der Couch. Der Fernseher ist ausgeschaltet. Ich richte mich auf.
»Schon wach?« ,
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