Schischkin, Michail
jemand rannte über die Dächer der Garagen. Ein abgebrochener
Fingernagel blieb an Rock und Strumpfhosen hängen. Die Spunde im Flickraum
nähten den Abgängern die Kragenbinden ein. Hunde hatten sich an Aas
überfressen und kotzten. Im Spiegel lief die schief hängende Uhr verkehrt
herum. Granaten wurden in Keller geworfen. Mütter zeigten auf dem Markt Fotos
herum, die in Zellophantütchen steckten. Ein Heckenschütze machte, dass aus
einem Kopf roter Staub schlug. Die Abgänger spuckten in den Brei, den sie auf
ihren Tellern gelassen hatten. Anstelle eines Kindes wurde sein Mäntelchen zu
Grabe getragen. Kiefernzapfen und Schottersteine flogen über den Zaun. Jemand
wurde aus Mitleid erschossen. In Stiefeln und Unterhosen wurde auf einem
Krankenhaushof Fußball gespielt, der Ball hatte eine Delle. Er atmete schwer,
von jedem gezielten Tritt blieb ihm die Luft weg. Und keiner wollte ein
Einsehen haben, damit die Qualen ein Ende hatten. Aus Mitleid. Gott hatte doch
sein Erbarmen mit Ninive in Aussicht gestellt, aber alles blieb beim Alten. Da
sah ich den Grauen auf dem rostigen gynäkologischen Stuhl sitzen. Sein
Zeigefinger befahl mich zu ihm. Ich ging hin, meine Stiefelsohlen schlurften
über die Glassplitter auf dem Asphalt. Bist du's, Grauer? Ich dachte, sie
hätten dich bei Bamut getötet? Er spuckte durch die Zahnlücke auf den Asphalt,
verschränkte die Hände im Nacken und grinste. Dann könntest du ja wohl nicht
mit mir reden, oder? Da fragte ich ihn: Grauer, bist du etwa der liebe Gott? Er
spuckte noch einmal aus, kratzte sich die Achselhöhle und sagte: Wenn man's
nicht weiß, muss mahs halt glauben.
Frage: Glauben
oder wissen, das kommt doch aufs selbe raus.
Antwort: Das habe
ich ihm auch gesagt. Und gefragt: Herr, warum hast Du kein Erbarmen mit Ninive?
Frage: Und, was
hat er gesagt?
Antwort: Hast du
denn immer noch nicht begriffen, dass es keinen Gott gibt?, fragte er grinsend
zurück und ließ den Gummizug seiner Unterhose gegen den Bauch knallen. Da hörte
ich einen kurzen Pfiff. Wandte mich um. Sie stand unter der Akazie vor unserem
Zaun - in einer Hand die Federballschläger, in der anderen den
Tischtennisball. Schob die Unterlippe nach vorn, pustete sich den Pony von den
Augen. Streckte mir den Ball entgegen und rief lächelnd: Komm!
Maria
Lichtmess Ich habe das Tagebuch die ganze Zeit nicht angefasst. Es ist jetzt
einen Monat her, dass Aljoscha tot ist. Ich war in der Alexander-Newski-Kirche.
Hab eine Kerze für ihn aufgestellt. Stand an derselben Stelle wie wir beide
damals. Hatte alles so im Blick wie damals mit ihm: die Wasnezow-Fresken, das
Mosaik, die Ikonostase. Alles wie damals. Sogar derselbe Priester. Nur die
Pappeln draußen sah man nicht, weil die Fenster zugeschneit waren. Und Aljoscha
lebt nicht mehr.
Anschließend
ging ich zu ihm nach Hause. Sergej Petrowitsch war nicht da. Tatjana Karlowna
lag in ihrem Zimmer. Ich setzte mich ein Weilchen zu ihr, dann ging ich zu
Timoscha hinüber. Ihm gefällt das lustige dicke Michelin-Männlein, aus
Autoreifen zusammengesetzt, mit Rennfahrerkappe und -brille. Wo immer er es
findet, wird es mit Buntstiften ausgemalt. Ich setzte mich dazu und malte ein
bisschen mit. Timoscha kann schon wieder unbekümmert lachen und glücklich sein.
Der Bruder hat für ihn aufgehört zu existieren.
Und er
ähnelt Aljoscha so sehr!
Die Ahnung
von seinem Tod, mit der ich an jenem Morgen erwachte, hat nicht getrogen. Am
nächsten Morgen kam der Brief, ich las ihn und frohlockte: Aljoscha lebt! -
aber das war ein Irrtum. So lebhaft malte ich mir die Sonne vor seinem Fenster
aus, die Kälte, den glitzernden Schnee, das Spatzenglück... Und er war schon
tot.
Auf dem
Rückweg, in der Nikitinskaja, traf ich Nina Nikolajewna. Wir waren uns seither
nicht wieder begegnet. Sie wusste von nichts. »Aber wer wird denn so belämmert
durch die Gegend laufen!«, begann sie. »Man darf sein Innenleben nicht vor sich
her tragen, dass jeder in einen hineinschauen kann. Gesicht zeigen! Sollen
alle denken: Die kennt keine Nackenschläge, die ist es gewöhnt, dass ihr alle
gehorchen: die Männer und die Verhältnisse!« Ich brach in Tränen aus, sagte
ihr, dass Aljoscha gefallen ist. »Ach, du armes Kind!«, ächzte sie auf. Umarmte
mich, weinte mit. Es gab eine Bank in der Nähe, wir setzten uns. Sie erzählte
mir, wie der Mann, den sie in ihrer Jugend geliebt, zu Tode kam. In Skobelews
Heer in Bulgarien. Ich war zutiefst gerührt, wie diese Frau, alt und weise
genug, um zu
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