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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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Nur leider findet man hier keine Lianen. Nichts als Schneewehen
überall.«
    Frage: Kannst du
dich noch an den Vater erinnern?
    Antwort: Nein. Aber
Mama hat mir viel von ihm erzählt. Als ich unterwegs war, wollte er mich zuerst
nicht haben. Mama hatte schon zuvor mehrmals abgetrieben. Und auch diesmal
sagte Papa, als er von der Schwangerschaft erfuhr, man könne sich ein Kind
jetzt auf keinen Fall leisten. Sie begannen für die Abtreibung zu sparen, das
war damals teuer, und sie hatten nur sehr wenig Geld. Aber wahrscheinlich war mein
Lebensdrang gar zu groß, denn eines Tages nahm Papa die zurückgelegten Scheine,
zerriss sie und sagte: »Schau her, das Geld für die Abtreibung ist futsch,
jetzt wird geboren!« Mama hat ihn sehr geliebt. Sie wollte, dass das Kind
seinen Namen bekommt, und war deshalb froh, dass er Sascha heißt, denn so
können Jungen und auch Mädchen heißen. Sie und ich, wir hatten voreinander
keine Geheimnisse, vor dem Einschlafen kuschelte ich mich bei ihr an, und wir
erzählten uns alles. Ich ihr und sie mir - wirklich alles, Gutes und
Schlechtes. Sie litt immer noch sehr darunter, dass sie als Kind den Tod ihrer
kleinen Schwester verschuldet hatte. Es war im Sommer auf der Datscha gewesen,
Mama war acht. Die Eltern waren weggegangen und hatten ihr aufgetragen, auf die
Schwester aufzupassen, die hieß auch Sascha, wie ich. Sie war anderthalb. Erst
schlief sie, irgendwann wurde sie wach und begann zu schreien. Mama versuchte
sie zu beruhigen, es gelang ihr nicht. Draußen fing es gerade zu regnen an, und
Mama kam auf die Idee, wenn sie Sascha nach draußen brächte, könnte der Regen
sie einschläfern. So wickelte sie sich mitsamt dem Schwesterchen in den alten
Regenmantel des Vaters, ging vor die Tür und setzte sich auf die unterste Stufe
der Vortreppe, über sich den Flieder. Die Zweige bogen sich, die Bäume
rauschten, die Pfützen glucksten, und Sascha wurde vom Geräusch des Regens
tatsächlich gleich still. Der Regen war stark und kam von der Seite, Mama hatte
vergessen, die Fenster auf der Terrasse zu schließen, dort regnete es hinein.
Sie stand auf, um das schlafende Kind ins Bettchen zu bringen und die Fenster
auf der Terrasse zu schließen, dabei verhedderte sie sich auf den Stufen im
Mantel, stolperte, fiel hin, und Saschas Kopf schlug mit voller Wucht auf die
Dielen. Mama war geschockt und wusste nicht, was tun, rannte zu den Nachbarn,
die das Kind ins Krankenhaus fuhren, Mama blieb da und wartete auf die Eltern.
Als sie kamen, fuhren sie auch gleich ins Krankenhaus. Kehrten zurück ohne das
Kind. Ein paar Tage später starb es. Mama litt unendlich, heulte nächtelang.
Sie wollte nicht mehr leben, sich umbringen, sagte sich: Wie kann ich
weiterleben, wenn Sascha meinetwegen sterben musste? Und als sie alle
miteinander vom Begräbnis nach Hause kamen und um den Tisch saßen, da ging Mama
hinaus in den Garten und wollte sich in der Jauchegrube ersäufen, aber sie sah
die Würmer in der Grube und brachte es nicht über sich. Ich streichelte Mamas
Hand, wusste nicht, was ich dazu sagen sollte, sagte: »Mama, weine doch nicht,
du hast doch jetzt mich! Vielleicht bin ich ja sogar das Mädchen von damals!
Ich bin doch auch Sascha!« Und wir drückten uns und schliefen ein - so zu zweit
in den Schlaf zu sinken war wunderbar.
    Frage: Du
erinnerst mich an jemanden. Ein Mädchen, das ich vor vielen Jahren kannte.
Egal, es gibt sie nicht mehr. Einmal stritten wir uns, ich weiß nicht mehr,
worum es ging, es fielen eine Menge kränkende Worte, am Ende warf sie mit einem
Buch nach mir und ging. Eine halbe Stunde später kam sie zurück und sagte
leise: »Zieh deinen Pullover linksherum an!« Ich verstand nicht. Sah nur, dass
auch sie ihren Pullover linksherum trug. »Was soll das?«, fragte ich. »Als Kind
hat mir die Großmutter gesagt: Wenn du dich im Wald verläufst, musst du dein
Kleid linksherum anziehen, dann findest du den Weg heraus.« Ich zog den
Pullover nach links, und tatsächlich war alles Böse und Gemeine, was sich in
uns angestaut hatte, sofort verschwunden, ich hatte nur noch den Wunsch, sie in
die Arme zu nehmen und so festzuhalten, dass sie mir nie wieder entglitte.
    Antwort: Was ist
aus ihr geworden?
    Frage: Tut nichts
zur Sache.
    Antwort: Soll ich
weitererzählen?
    Frage: Wie du
willst. Warum lachst du?
    Antwort: Mir ist
gerade etwas eingefallen. Früher einmal erschien es mir so, als wären alle
meine Freundinnen schön, nur ich eine Missgeburt. Ich schämte mich

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