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Schischkin, Michail

Schischkin, Michail

Titel: Schischkin, Michail Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Venushaar
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Lichtkegel der
Straßenlaternen. Der Asphalt lag unter einer Schneedecke;
    wo man
hintrat, taute es. Da lief ich los in meinen hochhackigen Pumps, das
verschneite Trottoir entlang, eine Kette schlanker schwarzer Tritte hinter mir
zurücklassend. Ich laufe weg!, dachte ich. Soll er meinen Spuren folgen! Auf
einmal ging es mir gut, es war fantastisch. Ich kratzte eine Handvoll Schnee
vom Pflaster, formte einen kleinen Ball, fuhr mir damit über Lippen und Hals.
Eine Woge von grundlosem Glück überkam mich. So gut hatte ich mich schon lange
nicht mehr gefühlt. Und all das nur wegen des bisschen Schnees.
     
    Heute ist
es neun Jahre her.
    Ich hatte
gedacht, alle Tränen müssten mittlerweile ausgeweint sein. Aber das ist wohl
nicht zu schaffen.
    Auf einmal
muss ich feststellen, dass nur noch ganz wenige Erinnerungen übrig sind. Ich
war anderthalb Jahre nur an seiner Seite, wir waren so gut wie unzertrennlich,
und doch sind von seinem Leben nur ein paar einzelne Bilder in meinem
Gedächtnis geblieben.
    Wolodetschka
saugt an seiner Ferse.
    Sein
Lächeln.
    Eine
kleine Haselmaus kocht sich einen süßen Schmaus, muss sie Wasser holen: Hier
kommt es kalt (ich kitzle zart sein Handgelenk) - hier kommt es warm (ich
kitzle den Ellbogen) - und hier, hier kommt es heiß, heiß, heiß (ich kitzle
unter der Achsel).
    Wolodetschka
lacht.
    In der
Pariser Klinik bekam ich den Kleinen auf den Bauch gelegt, sie quetschten mir
ein paar Tropfen Vormilch aus der Brust und ließen ihn lecken, bevor sie ihn
davontrugen. Danach hatte ich einen Riesenhunger - sie brachten irgendeine
Bouillon, dabei hätte ich Appetit auf dicke Kohlsuppe gehabt.
    Ich sehe
Iossif mit dem Fencheltee hinter mir herlaufen: Trink!, bettelte er. Damit die
Milch einschoss.
    Gott, was
hab ich damals ausgestanden! Die Drüsen entzündet und mit Abszessen, Risse in
den Warzen; ich schrie vor Schmerz, wenn ich dem Kleinen die Brust gab, und das
alle drei Stunden. Kaum waren die Wunden an den Brüsten verheilt, biss er sie
wieder auf.
    Ein Kind -
das ist, als hättest du dein Herz nach draußen verlegt. Du bist hier, und dein
Herz schlägt dort.
    Ich litt -
und hätte doch später jeglichen Schmerz ertragen, wenn nur das Kind noch am
Leben gewesen wäre. Heute ist nichts weiter übrig von ihm als ein paar
Erinnerungen und der Brief, den ich damals nach Rostow an Mama schickte. Ich
hatte sein Händchen und sein Füßchen auf ein Blatt Papier gestellt und war mit
dem Bleistift darum gefahren; auch den Faden, mit dem ich seine Größe gemessen
hatte, steckte ich ins Kuvert.
    Ich bekam
es von Mama irgendwann zurück und hüte es nun. Vorhin habe ich wieder
hineingeschaut. Das Füßchen, das Fädchen... doch mein Söhnchen ist nicht mehr.
    So viele
Jahre sind vergangen - doch es genügt daran zu denken, und meine Seele
verwandelt sich in einen blutigen Klumpen.
    Manchmal
komme ich mir vor, als wäre ich achthundert Jahre alt.
    Früher
habe ich nie begriffen, wieso es in der Bibel Leute gibt, die fünfhundert,
sechshundert Jahre alt sind. Jetzt weiß ich es!
     
    Ich bin öfters
nach Sergijew Possad gefahren, das jetzt aus irgendeinem Grund Sagorsk heißt.
Das Kloster ist verwahrlost, die Kirchen sind geschlossen und dem Verfall
preisgegeben, im Klostertrakt wird gewohnt, überall hängt Wäsche auf den Leinen
- ärmliches, verschlissenes Zeug.
    In den
Bethanienteichen, wo die Mönche früher Fischzucht betrieben, wuchern Schilf und
Gras.
    Die
Inbrunst aus Jahrhunderten von Gebeten kann sich doch nicht verflüchtigt haben,
so dachte ich mir. Irgendwo ist sie aufbewahrt - in den Steinen, den Kuppeln,
dem Schilf, dem grünen Gras.
    Die
Menschen gehen vorbei und bekreuzigen sich.
    Ich betete
für meinen Sohn - betete die Kuppeln an und die Klostermauern, die
hundertjährigen Bäume und das grüne, grüne Gras.
     
    Die
Konzertreisen sind es vor allem, die mich erschöpfen, diese ewigen
Eisenbahnfahrten, zugigen Abteile, Bahnhöfe, die Hotels mit ihren schrecklichen
Betten, die schlaflosen Nächte. Nachts umsteigen in Kursk - ein Albtraum!
Schlafende Menschen kreuz und quer auf dem Boden, in ihre Bündel verkrallt;
stinkende Klos; alles furchtbar traurig. In Woronesh wollten wir einen Gang
durch die Stadt machen, beim Anblick der Leute überlegten wir es uns anders.
Kneipen zuhauf, vor jeder drängen sich abgerissene, ausgemergelte Gestalten.
Mehr Betrunkene als Nüchterne in den Straßen.
    Dabei
kommen zu den Konzerten immer herausgeputzte schöne Menschen mit hellen
Gesichtern,

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