Schismatrix
einen Former verzehren muß, um am Leben zu bleiben. Am Ende der Erzählung wird sie in insektenhafter Form aus einem Kokon wiedergeboren - mit den Fähigkeiten des Wesens, das sie verzehrte.
Bewegten sich die beiden ersten Erzählungen des Zyklus noch auf durchaus vertrautem Boden der Science Fiction, so erkundete »Cicada Queen« (1983) schon eher die symbolischen Tiefen dessen, was Sterling den Posthumanismus nennt. Unter Berufung auf den Nobelpreisträger Ilya Prigogine, einen belgischen Physikochemiker, der sich unter anderem mit der statistischen Mechanik irreversibler Prozesse befaßt, entwickelt er im Gewand einer Erzählung die von ihm so bezeichneten ›Prigoginischen Ebenen der Komplexität. Jede Ebene beruht auf einem autonomen generativen Katalysator, der sich selbst antreibt und neu erzeugt. Die erste Ebene ist der Urkosmos, die zweite Ebene das Universum in Raum und Zeit, die dritte Ebene das Leben, die vierte Ebene die Intelligenz und die fünfte Ebene bloß noch das Postulat, »sie sei so sehr von der Intelligenz entfernt wie diese vom amöbischen Leben oder das Leben von inaktiver Materie«. Die Geschichte macht vor komplizierten Zusammenhängen und Worten mit spezieller Bedeutung nicht halt, und entsprechend schwierig ist sie auch zu lesen, doch Sterling, der seine Schreibtechnik hier wohl den Romanen von William Gaddis entlehnt, erwartet vom Leser ohnehin, daß er aktiv an der Entschlüsselung des Textes teilnimmt. »Sunken Gardens« (1984) widmet sich schließlich dem größten Thema im Mechanisten/Former-Universum: daß die Zweckfreiheit so absolut wie die Freiheit sei und allumfassend. In der Erzählung beobachteten die sogenannten Regalier des Terraform-Clusters aus einem Orbit die Umwandlung des Mars in einen bewohnbaren Planeten. Die Regalier sind eine Gruppe Herrschender, die sich aus den Siegern in Konkurrenzkämpfen zwischen Formern und Mechanisten auf dem Mars zusammensetzt. Nur wer technische Neuerungen entwickelt, kann selbst den begehrten Posten eines Regaliers einnehmen. Als ein Former namens Mirasol auf eine Gruppe primitiver Menschen stößt, die zur Strafe dafür, daß sie fast die Technik des Raumflugs wiederentdeckt hätten, so gut wie ausgelöscht wurden, hat der Oberste Regalier keine Probleme, das umgehend zuzugeben. Mirasol wendet ein: »›Aber denken Sie doch an die Leute. Stellen Sie sich vor, wie sie ihre Technologie verlieren und zu Menschen degenerieren, einer Handvoll Wilder, die Vogelfleisch ißt.‹ ›Unser Spiel ist Wirklichkeit, sagte der Regalier. ›Sie können die wilde Schönheit der Zerstörung nicht leugnen.‹ ›Sie verteidigen diese Katastrophe?‹ Der Regalier zuckte mit den Achseln. ›Wenn das Leben perfekt funktionieren würde, wie könnten sich Dinge entwickeln? Sind wir nicht posthuman? Dinge wachsen; Dinge sterben. Mit der Zeit tötet der Kosmos uns alle. Der Kosmos hat keine Bedeutung, und seine Leere ist absolut. Das ist reiner Terror, aber es ist auch reine Freiheit. Nur unser Ehrgeiz und unsere Schöpfungen können ihn ausfüllen.‹ ›Und das rechtfertigt Ihre Handlungen?‹ ›Wir handeln im Namen des Lebens‹«
Es ist diese Philosophie der Bedeutungslosigkeit menschlichen Handelns und die daraus folgende absolute Freiheit, die Sterlings Former/Mechanisten-Zyklus ihren Stempel aufdrückt. Seine Bewohner eines in Republiken unterteilten Sonnensystems, die sich mit Hilfe biogenetischer Techniken einerseits und computerelektronischer Cyborgverfahren andererseits verändern und in zahlreiche Unterarten aufspalten, versuchen Antworten auf die Frage zu finden, was Menschsein eigentlich ausmacht - wobei sie in einem eleganten Kunstgriff keine körperliche Ähnlichkeit mehr mit ihren unmodifizierten Vorfahren aufweisen, ein äußerliches Zeichen dafür, daß sich mit diesen Modifikationen auch ihr Bewußtseinsfokus verschoben hat. Deutlicher noch als in den vorangegangenen Geschichten wird die Frage nach verbleibenden Glaubenswerten und deren gleichzeitige Auflösung in der kurzen programmatischen Erzählung »Twenty Evocations: Life in the Mechanist/Shaper-Era« thematisiert, doch erfährt sie ihre endgültige Ausarbeitung erst in dem vorliegenden Roman, der im wesentlichen dem Handlungsaufbau dieser Erzählung folgt. Wenn man so will, kann man Schismatrix (1985) als einen Vorschlag sehen, was wir von einer Zukunft erwarten können, in der die Gentechnik zunehmend die traditionelleren Methoden der Fortpflanzung und des Gesundheitswesens ersetzt
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