Schismatrix
anderen an, die absichtlich blind und nicht-sehend hinter ihren Videoglotzern verharrt hatten. Nichts, gar nichts war geschehen.
AN BORD DER ›RED CONSENSUS‹: 27-10-'16
»Schlafstörungen, Bürger?« fragte Richter-2. »Machen dir die Steroide zu schaffen, trampeln in deinen Traumphasen rum? Also, ich kann das hinkriegen.« Sie lächelte, wobei sie drei sehr antike verfärbte eigene und eine Batterie sonstiger weißglitzernder Porzellanzahnprothesen entblößte.
»Es wäre mir eine Wonne«, sagte Lindsay, gewaltig um Höflichkeit bemüht. Die Steroiddosen hatten auf seinen langen Armen dicke Muskelstränge wachsen lassen, hatten die vom beständigen Jiu-Jitsu-Drill herrührenden Sternnebel von Prellungen heilen lassen... und ihn prallvoll gemacht mit Wallungen und Anwandlungen von plötzlicher wütender Aggressivität. Andererseits raubten sie ihm den Schlaf, so daß er nur zu kurzen fieberhaften Nickerchen und Wegsackperioden kam.
Während er jetzt die »Stationsschwester« der »Fortuna« durch seine rotgeränderten schlafmüden Augen betrachtete, kam ihm plötzlich die Erinnerung an seine Ex-Frau hoch. Alexandrina Lindsay - sie hatte genau die gleiche porzellanpuppenhafte Präzision in ihren Bewegungen, die gleiche pergamenten wirkende Haut, die gleichen verräterischen Alterswülste an der Haut der Fingerknöchel. Seine Frau war achtzig Jahre alt gewesen. Und Lindsay, während er der Richterin zusah, verspürte eine beinahe erstickende übertragene Sexualanziehung.
»So, das müßte reichen«, sagte die Zweitrichterin, während sie aus einer plastikverstöpselten Ampulle eine trübe Flüssigkeit in eine Spritze aufzog. »Eine Prise REM-Promotoren, Serotoninagonisten, Muskelrelaxer - und ein Hauch Mnemonika, um belastende Erinnerungen loszueisen. Ich nehm das die ganze Zeit selber. Es ist einfach sagenhaft. Und während du dann weggetreten bist, nehm ich mir gleich deinen anderen Arm vor.«
»Ach, bitte, nicht grad jetzt«, sagte Lindsay durch zusammengebissene Zähne. »Ich hab mich noch nicht entschlossen, was ich da an Mustern haben will.«
Richterin-2 steckte mit enttäuschtem Schmollen den Tätowierungsapparat an die Wandung zurück. Sie schien ganz und gar »nadelfixiert« zu sein, schien mit Nadeln zu leben, sie zu schlucken, einzuatmen. Dachte jedenfalls Lindsay. »Findest du meine Arbeit nicht gut?« fragte sie.
Lindsay betrachtete kritisch seinen rechten Arm. Der Knochen war wieder gut zusammengewachsen, doch er hatte inzwischen soviel Muskelgewebe aufgebaut, daß die Tätowierungszeichnung grotesk verzerrt war: Coaxialkabel-Schlangen mit TV-Augen und weiße Totenschädel, gekrönt von flachen Solarpaneelflügeln und von Blitzen bekränzte Messer - und überall dazwischen umherschwirrend ein Schwarm weißer Motten. Die Haut dieses Armes war vom Handgelenk bis zum Bizeps dermaßen von Tinte übersät, daß sie sich bei der Berührung kühl anfühlte und keinen Schweiß mehr absonderte.
»Doch, es ist eine gute Arbeit«, sagte er, während die Kanüle sich durch das blicklose Augenloch eines Totenschädels bohrte. »Aber wir warten mit dem Rest dann doch lieber, bis ich den restlichen Muskeltonus aufgebaut habe, geht das, Bürgerin?«
»Träum was Schönes«, sagte sie.
In der Nacht erwachte die Republic zu ihrem wahrsten, ihrem eigentlichen Leben. Die Konservationisten liebten darum die Nacht, weil da die argwöhnischen Augen sämtlicher Älteren in friedlichem Schlaf verklebt waren.
Wahrheiten, die sich vor dem Tageslicht verstecken mußten, enthüllten sich unter den grellen Lichtern der Nacht. Die Solarenergie aus den Kollektorpaneelen waren die Geldwährung dieser Republic. Nur die Allerwohlhabendsten konnten es sich leisten, ohne Rücksicht diese »finanzielle« Macht zu vergeuden und aufs Spiel zu setzen.
Aus den Krankenhäusern rechts von ihm, am Nordende des Weltzylinders, strömte Licht. Die gebrechlichen Gebeine der Altradikalen befanden sich in angenehmer Ruhe, einem nahezu schwerelosen Zustand, in den Kliniken um die Zylinderachse. Aus fernen Fenstern sickerten gichtige Lichtstrahlen, gelbliche Positionsleuchten von den Landestellen, eine Art verschmierte, talmihafte Milchstraße des Reichtums.
Plötzlich, im Heben der Augen, war Lindsay hinter diesen Fenstern. In den Räumen seines Urgroßvaters. Der alte Mechanist schwamm in einer Matrix von Lebenswartungs-Schläuchen; die Augenhöhlen waren mit einem Video-Input verdrahtet; das alles in einer Krankensuite, die
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