Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Aufgabe der Sozialarbeiter. Lena freut sich, junge Menschen um sich zu haben, aber ich mache mir bald wieder Sorgen, weil die anderen über eine Lebenserfahrung verfügen, die ich Lena gern erspart hätte: Silvia weiß, welche Drogen man wo in der Gegend zu welchem Preis bekommt. Jürgen trickst das Sozialamt aus. Manfred ist 16 und bettelt in der U-Bahn mit einem Schild »Taubstummer Diabetiker«. Lena berichtet ein bisschen verunsichert von diesen neuen Eindrücken. Sie bewundert die Weltläufigkeit der anderen, aber sie ahnt auch, dass das nicht die Normalität ist, die sie sich wünscht.
Mir fällt auf, dass ich selten Angehörige von Lenas Mitbewohnern zu Gesicht bekomme. »Wann besuchen dich denn deine Eltern?«, frage ich Mario. »Keine Ahnung«, murmelt er, »die wollen schon lange nichts mehr mit mir zu tun haben.« Mario ist 15. »Und deine Eltern?« Silvia lacht: »Die sind sowieso zum Kotzen. Ich bin froh, dass ich nichts mit denen zu tun habe.« »Meine Mutter kommt nicht damit klar, dass ich krank bin, sie findet, ich soll mich mehr zusammennehmen«, erklärt Tanja. »Kenn ich«, sagt Michael und zieht tief an seiner Zigarette. Alle rauchen. Über uns hängen dicke Rauchwolken, die Aschenbecher auf dem Tisch quellen über. Ich verstehe nicht, dass diese kranken Jugendlichen von ihren Angehörigen alleinegelassen werden.
Zu meinem Erstaunen lernt Lena in der Wohngemeinschaft etwas Disziplin. Die Jugendlichen sind äußerst ordentlich, nur in Lenas Zimmer herrscht schnell wieder das typische Chaos. Lenas Mitbewohnerin Silvia kann sich bei Lena (im Gegensatz zu mir) durchsetzen. Wenn sie wegen Lenas Unordnung, die allmählich in die Küche hineinwächst, herumbrüllt, zittert Lena vor Angst – und räumt auf.
Und dann lernt sie Gugu kennen, der wie ein Botticelli-Engel aussieht. Sie sind sofort verliebt. Lena kümmert sich um den zerbrechlichen Gugu, und er ist zärtlich und anhänglich. Lena ist glücklich. Plötzlich wird das Leben in der Wohngemeinschaft schön. Gugu ist ein Künstler. Als ich seine Zeichnungen betrachte, auf denen er weißes Papier mit einem einfachen Bleistift in einen Märchenwald verwandelt, der von Zwergen, Riesen, Gespenstern und exotischen Pflanzen bevölkert ist, bin ich überrascht. Er malt nur, was in seinem Kopf ist, sagt er. Aber Gugu ist nicht nur begabt und schön, er ist auch psychisch krank. Nach einem nächtlichen Zusammenbruch wird er mit der Feuerwehr in die nächstgelegene Psychiatrie gebracht. Als Lena und ich ihn am nächsten Morgen besuchen, liegt er kaum bewegungsfähig in einem Bett und ist an Armen und Beinen in weiße Verbände gewickelt. Gugu hatte sich angezündet. Die Schwestern haben ihn erst gefunden, als schon viel von seiner Haut verbrannt war. Es saß alleine im Aufenthaltsraum, so dass niemand die Flammen bemerkt hat. Lena weint.
In der Wohngemeinschaft häufen sich die Katastrophen. Mario schneidet sich die Pulsadern auf und muss mit der Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht werden. Drei Tage später kommt er zurück. In der nächsten Woche wiederholt es sich. Pulsadern, Feuerwehr, Krankenhaus. Manfred wird beim Klauen erwischt und von der Polizei zurückgebracht. Ihm ist das egal, er ist minderjährig, da passiert ihm nichts. Silvia hat einen Zusammenbruch, möglicherweise hat sie zu viel von den Drogen aus der Nachbarschaft genommen. Auch sie muss mit der Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht werden. Lena ruft schluchzend an und sagt: »Ich habe dauernd Angst, dass die Polizei vor der Tür steht, Mama. Und dass Silvia brüllt. Und dass Mario mit seinen Zigaretten die Wohnung ansteckt. Neulich hat schon der Aschenbecher gebrannt. Und dann das Blut in der Küche.«
Lena will wieder nach Hause, und da sie in die Abendschule gehen will, kann sie ohnehin nicht in der Wohngemeinschaft bleiben, weil sie dann nicht mehr an den verpflichtenden Gruppenabenden teilnehmen könnte. Sie entscheidet sich für die Schule.
Nach einigen Monaten in der WG ist Lena also wieder bei mir, und ich merke, dass sich ein Rückfall anbahnt. Sie bleibt die ganze Nacht wach, ihre Knie zittern so heftig, dass die Tassen auf dem Tisch umkippen. Sie versteht oft nicht, was ich sage, oder wechselt mitten in einer Unterhaltung abrupt das Thema. Wenn ich nachfrage, schaut sie mich verwirrt an. Sie weiß nicht, wovon ich spreche. Es ist, als ob zwei Menschen sich im gleichen Raum befinden, sich aber nicht hören können. Die Turbulenzen in der Wohngemeinschaft haben ihr so
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