Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
Christoph will mit ins Auto steigen, ich habe Mühe, ihn daran zu hindern. Schließlich schreie ich ihn an, ich würde die Polizei holen – das hilft.
Schon im Auto merke ich, dass etwas gar nicht in Ordnung ist. Lena antwortet nicht auf Fragen, und als ich zu ihr hinschaue, gibt sie mir durch Handzeichen zu verstehen, dass sie nicht reden kann. Ihre Hände flattern vor Gesicht und Körper ausdrucksvoll hin und her. Plötzlich wird mir klar, dass Lena Gebärdensprache spricht. Lena kann keine Gebärdensprache sprechen. Aber für mich sieht es exakt so aus. Es ist schrecklich, wenn ein Mensch, den man kennt und liebt, sich plötzlich in eine vollkommen fremde Person verwandelt. In einen Menschen, der scheinbar absurde Dinge tut und dabei ganz ernst bleibt. Zu Hause ist sie lieb und lächelt, schluchzt ab und zu, und immer wieder gibt sie mir durch diese Handzeichen zu verstehen, dass sie nicht sprechen kann. Es ist kein Schauspiel, Lena kann wirklich nicht sprechen. Ich bin erschüttert, mehr als bei der ersten Diagnose. Als sie aus England kam, war sie »komisch«, aber nicht dermaßen fremd. Man kann nicht glauben, dass ein geliebter Mensch in eine andere Realität abgleitet, zu der man keinen Zutritt hat. Vermutlich gibt es für diesen Zustand eine medizinische Bezeichnung, aber das spielt keine Rolle, wenn man mit diesem Zustand konfrontiert ist. Ich versuche, zu ihr durchzudringen, ich verwöhne sie, koche ihr Lieblingsgericht, spreche freundlich mit ihr. Ich versuche Stress von ihr fernzuhalten. Als Christoph anruft, verbiete ich ihm, jemals wieder Kontakt zu Lena aufzunehmen. Als er an die Tür donnert und brüllt, rufe ich die Polizei. Er ist weg, als sie eintrifft. Die Polizisten sehen die gestikulierende Lena und werfen sich einen Blick zu. Ob alles in Ordnung sei. Ja, versichere ich ihnen. Sie gehen wieder. Lena hilft keiner meiner Versuche, sie wieder zurückzuholen. Sie kann mich verstehen, aber sie kann nicht sprechen. Sie lächelt, und ihre Hände flattern vor ihrem Gesicht und ihrem Körper. Ich weiß, Lena muss wieder ins Krankenhaus. Ich rufe an, sie haben ein Bett für sie.
Diesmal ist es nicht leicht, Lena ins Krankenhaus zu bringen. Sie will nicht, wird wütend und aufgeregt. Mit ihren Händen teilt sie mir mit, dass sie auf keinen Fall ins Krankenhaus zurückwolle. Das Merkwürdige ist, dass ich sie verstehe. Als ich ihre Sachen packe und versuche, ihr eine Jacke anzuziehen, drängt sie mich einfach weg. Lena ist durch ihren Fechtsport gut durchtrainiert. Ein Mensch in psychotischem Zustand kann zudem unvorstellbare Kräfte entwickeln. Ich habe keine Chance gegen sie. Wir setzen uns wieder hin, ich koche Tee, und langsam, ganz langsam gelingt es mir, sie davon zu überzeugen, dass die ihr bekannte Ärztin doch sehr nett sei und ihr vielleicht helfen könne. Nach mehreren Stunden willigt Lena ein, und wir fahren ins Krankenhaus. Sie kommt freiwillig, aber auf der offenen Station ist kein Zimmer frei, sie muss auf die geschlossene.
Für Patienten macht es einen großen Unterschied, ob sie auf der offenen oder auf der geschlossenen Station sind. Es ist nicht nur der Zwang, immer darum bitten zu müssen, dass die Tür geöffnet wird, das Gefühl von Ohnmacht, die Scham, Freunde vor der verschlossenen Glastür warten zu sehen. Es ist auch eine Hierarchiefrage. »Anfangs war ich in der Geschlossenen«, erzählen sie sich im stickigen Raucherraum. Alle nicken wissend. »Und die Sabine, die ist seit gestern auch in der Geschlossenen.« »Na ja, die war aber auch ganz schön durchgeknallt.« Zustimmendes Nicken. Sie wissen, dass die Geschlossene eine Stufe der Verrücktheit höher ist. Sie selbst auf der Offenen sind nicht mehr ganz so verrückt. Die Patienten wissen ganz genau, wie sie sich gegenseitig einzuschätzen haben.
Nach drei Wochen kann Lena auf die offene Station, nach weiteren vier Wochen darf sie nach Hause. Dieses Mal lasse ich nicht alles laufen, akzeptiere nicht alles, nur um nicht Lenas Unmut zu erregen. Noch mehr Abstürze kann ich nicht ertragen. Als Lena eines Tages Christoph anruft, schreie ich sie an. »Du hast jetzt die Wahl, Lena. Entweder wir springen beide vom Balkon. Wir sind hier im 6. Stock, das reicht.« (Ich hatte das im Internet recherchiert.) »Oder du triffst dich weiter mit Christoph und kiffst. Dann werfe ich dich hier und heute aus der Wohnung. Es ist mir dann egal, was mit dir passiert. Ich schicke dir die 1000 DM, wohin du willst. Ich will dich dann nie
Weitere Kostenlose Bücher