Schizophrenie ist scheiße, Mama!: Vom Leben mit meiner psychisch erkrankten Tochter (German Edition)
braucht. Dieses Verhalten sollte man vor Augen haben, wenn man wissen will, wie sich die psychische Erkrankung meiner Tochter für mich »anfühlen« kann. Nur ist es noch dramatischer. Schlimmer. Und es hört nie auf.
Man sollte sich deswegen davor hüten, Schwierigkeiten, die man mit vielen Jugendlichen in der Pubertät erlebt, mit denen gleichzusetzen, die durch eine psychische Krankheit entstehen. Die Rücksichtslosigkeit, die Aggressivität, die Beschuldigungen und Zumutungen, zu denen Lena in Krankheitsphasen fähig ist, sind nicht zu vergleichen mit dem Verhalten ab und zu »ungezogener« pubertierender Jugendlicher. Und es ist daher in kränkender Weise relativierend, wenn man mir sagt: »Das geht doch nicht nur Menschen mit Schizophrenie so« oder: »Aber das machen meine Nichten doch auch«. Wie immer sie gemeint sein mögen, mich verletzen diese Kommentare. Ich habe den Eindruck, dass man mir sagen will, ich sei überempfindlich oder übertreibe Lenas Symptome.
Es gibt aber auch entspannte, nichtwertende Reaktionen, die mir guttun. Als ich z.B. dem Maler, der Lenas Wohnung streicht, erkläre, dass Lena so lange die Wohnung verlassen wird, weil das für sie sonst aufgrund ihrer Krankheit zu anstrengend sei, fragt er: »Na, was hat sie denn?« Und als ich das Wort Schizophrenie erwähne, streicht er gelassen weiter die Türumrandung und fragt: »Ja und was hat man dann?« Ich erkläre kurz die Symptome der Krankheit, darauf tönt es von der Leiter: »Ich hab schon gemerkt, dass sie ein bisschen nervös ist. Ist ja nicht schön für die Kleine, aber ist doch ein nettes Mädel.«
Realschulabschluss geschafft
Lenas Beharrlichkeit führt zum erwünschten Erfolg. Trotz einer erneuten vierwöchigen Zwangspause im Krankenhaus besteht sie die mittlere Reife. Lenas nicht zu bremsender Wille und Fleiß, ihre Intelligenz und mein Coaching waren erfolgreich. Lena ist glücklich, sie kommt vergnügt mit dem jungen Mathematiklehrer flirtend aus der Prüfung, während ich mit verschwitzten Händen und Herzklopfen im Schulkorridor warte. Wir haben einen großen Schritt geschafft, aber nun braucht Lena einen Ausbildungsplatz – die nächste Herausforderung. Am liebsten würde sie etwas mit Mediendesign machen, sie ist kreativ und arbeitet gern am Computer. Nur werden diese beliebten Ausbildungsplätze an Schüler mit guten Zeugnissen vergeben, und Lenas Zeugnis ist eher durchschnittlich. Als Zwischenschritt beginnt sie ein freiwilliges soziales Jahr in einer Klinik. Es ist mir wichtig, dass sie etwas zu tun hat. Alles ist besser, als dass sie wieder ohne Aufgabe in ihrer Wohnung vor dem Fernseher sitzt. Es scheint eine gute Entscheidung zu sein, der Kontakt zu den Patienten macht ihr Spaß. Sie hat ein Talent dafür, auf Menschen zuzugehen, ihre Hilfsbereitschaft und ihre Liebenswürdigkeit machen sie zum Sonnenschein der Patienten, die sie zu ihren Untersuchungen fährt oder denen sie Essen bringt. Schwerer tut sie sich mit ihren Kolleginnen. Mit ihrer Ich-Schwäche ist sie den Frauen nicht gewachsen, jeder schroffe Kommentar erschüttert sie zutiefst. Ein kritischer Blick kann tiefe Selbstzweifel in ihr auslösen. Die Aufforderung, etwas schneller zu sein, treibt sie zur Verzweiflung. Die Schwestern wissen nichts von Lenas Krankheit. Sie sind weder besonders freundlich oder unfreundlich, sie sind »normal«. Ich versuche, Lena zu besänftigen, ihr gut zuzureden. Aber die Belastung ist für sie zu groß. Sie wird wieder unruhig und aggressiv, kann nicht schlafen, weint viel. Weihnachten 2000 bringe ich sie wieder ins Krankenhaus.
Inzwischen haben wir uns beide an »unsere« Station gewöhnt. Auch ich freue mich mittlerweile, wenn wir dort die gleichen Gesichter wiedersehen. Da ist Sven, ein 18-jähriger junger Eishockeyspieler, der plötzlich nicht mehr mit dem Stress umgehen konnte. Sabine, die Gebäudereinigerin, ist 32 und leidet an einer tiefen Depression. An einem Tag erzählt sie mir engagiert von ihrer Arbeit, bei der sie die Teamleiterin ist, und von den vielen unterschiedlichen Chemikalien, die für die Reinigung notwendig sind. An einem anderen Tag schleicht sie wie ein Zombie über den Flur. Auf Lenas Frage hin flüstert sie kaum verständlich, dass es ihr nicht gutgeht. Was geht in ihr vor? Es muss furchtbar sein, in diese finstere Depression hineingezogen zu werden.
Lena hat sich mit Harald, einem 50-jährigen promovierten Physiker, angefreundet. Gemeinsam drehen sie ihre Zigaretten um die Wette. Harald
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