Schlaf, Kindlein, schlaf
hatten fast schon die Kellertreppe erreicht – Máire konnte die Stufen schemenhaft erkennen –, als Val plötzlich stehen blieb. Máire stieß mit ihr zusammen und wäre beinahe gestürzt. Val griff ihre Hand und drückte sie fest. »Hörst du das?«, flüsterte sie, den Blick auf die Treppe geheftet.
Máire starrte auf Vals schwarze Silhouette und spürte ihren warmen Atem auf der Haut. Sie hatte es auch gehört: Eine Diele hatte leise geknarrt.
»Wenn er da oben ist, dann laufen wir ihm direkt in die Arme! Und wenn wir es nicht bis nach oben schaffen, schneidet er uns den Weg ab und wir können nicht entkommen!« Vals Stimme klang hilflos. »Was sollen wir tun?«
Máire schwieg. Sie näherte sich der Treppe, atmete tief ein und roch die frische duftende Luft von oben. Sie hörte in der Schwärze ein Geräusch, als würde eine gespannte Feder zurückschnellen oder ein Pfeil durch die Luft sausen. Máires Herz raste. Oben im Haus war es noch immer dunkel, er hatte also kein Licht gemacht.
»Ich probier das Telefon. Wenn es oben klingelt, wissen wir, dass die Polizei da ist«, entschied Máire. Sie fischte ihr Mobiltelefon aus der Tasche und öffnete die Klappe. Die kleinen Zahlen leuchteten grün, aber es gab keine Netzverbindung. Máire sah auf. Valerie glich im schwachen Licht der Tastatur einem dunklen Schatten, in ihrem Blick die nackte Angst. Mit einer Hand hielt sie die Kette umklammert.
»Kein Netz«, stellte Máire fest und versuchte, nicht allzu enttäuscht zu klingen. »Verdammtes Misttelefon!«
»Das ist nur, weil wir hier unten sind«, meinte Valerie.
»Nein, nein, ich habe vorhin schon von hier aus telefoniert.« Sie probierte es noch einmal, jedoch ohne Erfolg, dann klappte sie das Telefon zu und ließ es wieder in die Tasche gleiten. Ohne das leuchtende Display konnte sie kaum etwas erkennen. Sie versuchte, sich zu beruhigen, und musterte Valerie. Sie konnte sie nur undeutlich sehen, aber sie wusste, dass sie ihren Blick erwiderte. Starr wie Statuen standen sie einen Moment lang da, lauschten auf weitere Geräusche, nahmen die beunruhigende Finsternis in Augenschein. Máire stand mit einem Fuß auf der untersten Stufe, das Messer gezückt.
Nach einem unendlich langen und lautlosen Augenblick wandte Máire sich Val zu. »Warte hier. Ich schleiche mich nach oben und sehe nach, wer das ist.«
Val streckte Máire ihre kalten Hände entgegen, und sie merkte, wie ihre Hände zitterten. Sie ballte sie zu Fäusten.
»Mir gefällt das hier gar nicht«, hauchte Val kaum hörbar.
»Schaffst du das?«, fragte Máire.
»Ja, es geht schon, aber …«
»Pssst!«
Die warme Luft trug plötzlich das leise Geräusch von splitterndem Glas zu ihnen herab, dann wurde etwas über den Boden geschleift.
»Versteck dich irgendwo im Gang. Schnell!« Máire drückte kurz Valeries Hände.
»Sei vorsichtig. Pass auf!« Valerie verschwand in der Finsternis.
»Ich komme zurück«, flüsterte sie bestimmt, war sich aber nicht sicher, ob Valerie sie noch hörte. Dann erklomm sie die wackligen Stufen.
23
Máire drückte vorsichtig gegen die Tür. Totenstille lag in der Luft, und nur der blasse Mond, der sich zum Fenster hereinstahl und den Korridor mit samtigen Schatten füllte, erhellte die sonst vollkommene Dunkelheit. Irgendwo im Haus brach ein gedämpftes Klirren die Stille. Máire lief ein kalter Schauer über den Rücken, und sie versuchte verzweifelt, das Geräusch zu orten. Sie konnte sich noch einigermaßen an die Zimmer erinnern, die sie bei ihrem kleinen Rundgang durchs Haus betreten hatte. Vielleicht kam der Laut aus dem letzten, der Gästetoilette? Oder aus dem Kaminzimmer? Sie hielt den Atem an und verharrte mit dem Messer in der zitternden Hand mucksmäuschenstill.
Stille.
Sie durchdachte die verschiedenen Möglichkeiten. Falls es LeBelle war – und davon musste sie ausgehen – und alles so verlief, wie es sollte, würde sie sich an ihm vorbeischleichen und das Haus verlassen. Dort könnte sie sich dann irgendwo verstecken, auf Cooper oder Bondurant warten und mit ihnen dann das Haus unter die Lupe nehmen. Falls sie sich mit LeBelles Aufenthaltsort irrte, würde er sie entdecken, und das wäre fatal. Die Nacht bot ihm ideale Bedingungen, er hatte Heimvorteil und konnte von der Dunkelheit profitieren, sich frei im Haus bewegen, ohne überall anzustoßen, denn er kannte jeden Winkel wie seine Westentasche. Und war er es nicht, sondern einer der Polizisten, bestand die Gefahr, dass Máire in
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