Schlaf, Kindlein, schlaf
dich hoch, dann stütze ich dich von unten.« Sie hoffte, dass Val es nicht bemerkte, aber Máire hörte die unterschwellige Panik in ihrer eigenen Stimme. Jetzt wollte sie nur noch schnellstmöglich weg von hier.
»Máire. Ich kann nicht«, flüsterte Val.
»Doch, klar kannst du!«
Ein paar Sekunden verstrichen, die tausend Jahre zu dauern schienen, dann sagte Valerie mit einem mutlosen Seufzer: »Ich bin hier gefesselt … und ich glaube, ich habe mir den Knöchel gebrochen.«
Máire hob den Kopf und hörte leises Kettenklirren. Sie bekam eine Gänsehaut. Sie konnte noch immer nichts in der dichten unterirdischen Schwärze sehen, doch sie begriff, dass der Kerl Valerie irgendwo angekettet haben musste. »Wohin führt die Kette denn?«
»In die Wand! Es ist unmöglich freizukommen. Glaub mir, ich habe das schon versucht.«
Máire wollte reflexartig schreien und an der Kette zerren, stattdessen rief sie: »Dieser verdammte elende …« Sie beherrschte sich, hielt die Luft an und erklärte: »Hör mal zu. Ich habe die Polizei gerufen. Sie sind unterwegs. Sie können jeden Moment hier sein. Ich bleibe hier bei dir und warte.«
»Nein, versuch hier rauszukommen, Máire. Vielleicht finden sie uns hier unten gar nicht.«
»Doch, bestimmt. Ganz ruhig, wir warten hier. Die finden uns schon.«
»Geh bitte!«, flehte Valerie.
»Nein!«
»Los jetzt, kletter nach oben!«
»Ich will nicht. Ich habe schon einen Menschen im Stich gelassen, der mich gebraucht hat … und wenn dir was passiert, würde ich mir das nie …«
»Und was ist, wenn er kommt? Du hast selbst gesagt, dass wir uns beeilen müssen.« Valerie hatte ihre Hand auf Máires Schulter gelegt. »Wenn du wüsstest, wozu der fähig ist … du musst Hilfe holen.«
Máire zwang sich, ruhig zu bleiben, aber sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann. Sie wollte Valerie auf keinen Fall in diesem Fegefeuer alleine lassen. Das Einzige, was jetzt noch eine Bedeutung für sie hatte, war Valeries Befreiung aus diesem Loch.
»Hilf mir, die Taschenlampe zu finden!«, flüsterte Máire. »Beeil dich, ja?«
Valerie erwiderte nichts und tat, was Máire verlangt hatte. Máire kniete sich hin und ließ wie eine Irre einen Arm in großen Halbkreisen über den Boden gleiten. Das gedämpfte Geräusch von Gummi auf Stein verriet, dass sie die Taschenlampe gefunden hatte. Sie bekam den Schaft richtig zu fassen und knipste die Lampe an. Sie funktionierte.
Máire suchte mit dem Lichtkegel die enge, unterirdische Kammer ab. Die kalte stickige Luft wurde von dem Lichtschein wie ein Pulvergeist aufgewirbelt. Der Kellerraum war gerade mal so groß wie eine Fahrstuhlkabine, nicht mehr als ein Verlies mit einer Fläche von drei mal zwei Metern. Decke und Wände waren mit schalldämpfenden Platten verkleidet, die Falltür jedoch nicht, nur deshalb hatte Máire überhaupt etwas hören können.
In dem hellen Licht der Taschenlampe sah Valerie kreideweiß aus vor Angst, aber sie schwieg. So wie sie dastand, glich sie einer Insassin einer Irrenanstalt mit Zwangseinweisung, klein und schmächtig, das schwarze Haar hing ihr nass und strähnig bis auf die Schultern. Sie hatte auch noch Reste der Schminke im Gesicht. Sie sah müde aus; ihre Augen waren blutunterlaufen, auf ihre Stirn waren tiefe Falten getreten, aber sie schien trotz alledem unversehrt zu sein. Sie trug ein weißes bodenlanges Totenhemd mit Spitzenbesatz an den Ärmeln, genauso eins, wie C.J. es getragen hatte.
Máire leuchtete mit der Taschenlampe auf Valeries Hals. Dort waren große schwarze Flecken und Blutergüsse zu sehen. Dann ließ sie den Lichtkegel zu Vals Arm hinunterwandern. Eine blanke Metallmanschette, verbunden mit einer Kette, die in der Wand befestigt war, umschloss ihr linkes Handgelenk. Unter der Manschette war Blut zu sehen, sicher von Vals vergeblichen Befreiungsversuchen.
Máire packte Valerie am Arm und zog behutsam an der Manschette, während sie in der Tasche nach ihrem Messer kramte.
Valerie stöhnte vor Schmerz auf.
Máire schüttelte den Kopf. »Entschuldige!«
»Was willst du denn damit machen?«, wisperte Valerie nervös beim Anblick des Messers in Máires Hand.
Mit klopfendem Herzen musterte Máire die Manschette. Es war unmöglich. Sie konnte sie nicht öffnen. Sie war mit einem Vorhängeschloss fest verschlossen. Máire trat vor die Wand und stellte fest, dass die Kette mit einer Platte und vier Schrauben im Mauerwerk befestigt war. Sie bohrte die Messerspitze in eine Mauerfuge und
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