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Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird Kostenlos Bücher Online Lesen
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die neue an. »Sie ist wunderschön. Ich werde sie nie wieder ablegen.«
    Ich lachte, doch auch in meinen Augen standen Tränen.
    Plötzlich stand Alison auf, griff hinter den Baum und zog ein langes, dünnes, rechteckiges, in grünes Papier geschlagenes Geschenk hervor. »Das ist für dich«, sagte sie und legte es mir in den Schoß.
    Noch bevor ich es ausgepackt hatte, wusste ich, was es war. »Das ist zu viel«, flüsterte ich, als ich auf das Gemälde
der Frau mit dem breitkrempigen Hut an dem rosafarbenen Sandstrand blickte. »Das ist viel zu viel.«
    »Es gefällt dir doch, oder?«
    »Natürlich gefällt es mir. Ich liebe es. Aber es ist viel zu teuer.«
    »Ich habe Angestelltenrabatt bekommen. Das war natürlich vor meiner Entlassung.«
    Wir lachten und weinten gleichzeitig.
    »Trotzdem …«
    »Nichts trotzdem. Es gehört hierher. Genau dorthin.« Alison wies auf die leere Wand hinter dem Sofa. »Lance hilft dir, es aufzuhängen. Darin ist er gut.«
    »Spielst du damit etwa auf mein beachtliches Gehänge an?«, fragte Lance und stand auf.
    »Lance!«
    Doch ich hörte ihn kaum. »So etwas hat noch nie jemand für mich getan«, flüsterte ich. Welche Bedenken ich auch gehegt haben mochte, welche Fragen möglicherweise unbeantwortet geblieben waren, welche Zweifel noch nicht zerstreut, in diesem Augenblick löste sich alles in Wohlgefallen auf.
    »Für mich auch nicht«, sagte Alison, strich über die goldene Kette um ihren Hals und streckte die Arme aus.
    »Vorsicht, ihr beiden«, sagte Lance. »Sonst werde ich noch eifersüchtig.«
    Doch Alison beachtete ihn gar nicht, sondern schlang ihre Arme um mich und drückte mich so fest an sich, dass mir beinahe die Luft wegblieb. Ich spürte ihre Tränen auf meiner Wange, das Pochen ihres Herzen an meinem. Und in diesem Moment war es unmöglich zu sagen, wo ich aufhörte und sie begann.
    »Frohe Weihnachten, Terry«, schluchzte sie leise.
    »Frohe Weihnachten, Alison.«

16
     
     
    »Fröhliche Weihnachten«, rief ich, als ich die Tür zu Myra Wylies Krankenzimmer aufstieß.
    Es war kurz nach acht Uhr morgens, und Myra Wylie lag, den Kopf zum Fenster gewandt, in ihrem Bett. Sie machte keine Anstalten, sich umzudrehen, nicht einmal, als ich die Tür hinter mir schloss und mich vorsichtig und mit angehaltenem Atem näherte. Dieses Ritual hatte ich an diesem Morgen schon zweimal durchlaufen und Myra Wylie jedes Mal fest schlafend angetroffen. Ich hatte sie nicht gestört. Wie oft war der armen Frau noch eine Nacht erholsamen Schlafes gegönnt?
    Ich erinnerte mich, dass die letzten Monate meiner Mutter von extremer Ruhelosigkeit geprägt gewesen waren. Sie hatte sich die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt und kaum ein Auge zugetan. Sollte ausgerechnet ich sie stören, wenn das Weihnachtsfest Myra Wylies gequälter Existenz ein wenig Frieden gebracht hatte?
    Aber ihre Haltung an diesem Morgen war irgendwie anders, die Art, wie sich ihre gebrechlichen Schultern unter der Decke abzeichneten, wirkte seltsam sorgenvoll, der Winkel, in dem ihr Kopf abgeknickt dalag, wirkte beunruhigend. »Myra?« Ich tastete unter der Decke nach ihrer knochigen Hand und betete, einen Puls zu spüren.
    »Alles in Ordnung«, sagte sie mit klarer, aber matter Stimme, die wie durch ein raues Schleifmittel ihrer natürlichen Ausstrahlung beraubt schien. »Ich bin noch nicht tot.«
    Lance meint, die Leute sollten einen Stempel mit Verfallsdatum tragen , hörte ich Alison sagen.

    Sofort stürzte ich auf die andere Seite ihres Bettes, stellte mich direkt vor sie und sah, dass sie geweint hatte. »Myra, was ist los? Ist irgendetwas passiert? Haben Sie Schmerzen? Was ist denn?«
    »Gar nichts.«
    »Irgendetwas hat Sie ganz offensichtlich aufgeregt.«
    Sie zuckte die Achseln, und die winzige Geste erschütterte ihr labiles Gleichgewicht, sodass ihr Körper von einer Reihe heftiger Zuckungen erfasst wurde. Ich griff nach dem Glas Wasser auf dem Nachttisch, führte den Strohhalm an ihre Lippen und flößte ihr die lauwarme Flüssigkeit ein.
    »Wollen Sie, dass ich einen Arzt rufe?«
    Myra schüttelte stumm den Kopf.
    »Was ist denn? Mir können Sie es doch erzählen.«
    »Ich bin bloß eine dumme alte Frau«, sagte Myra und sah mich zum ersten Mal, seit ich das Zimmer betreten hatte, direkt an. Sie versuchte zu lächeln, doch der Versuch endete in fortgesetzten Zuckungen, die ihr Kinn zittern ließen.
    »Nein, das sind Sie nicht.« Ich strich mehrere Haarsträhnen – im Grunde eher Fäden als

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