Schlaf Nicht, Wenn Es Dunkel Wird
ganz genauso furchtbar, wie ich es erwartet hatte, was mir vermutlich eine gewisse Befriedigung gab. Wir haben zu viel Champagner getrunken, zu laut über Witze gelacht, die nur mäßig komisch waren, und wie alle anderen so getan, als hätten wir uns noch nie in unserem Leben so gut amüsiert. Um Mitternacht haben wir ›Frohes neues Jahr‹ gerufen wie ein Haufen besoffener alter Idioten und jeden in Sichtweite geküsst. Ziemlich bald danach sind wir nach Hause gefahren. Ich war sehr nervös. Ich habe ständig nach betrunkenen Autofahrern Ausschau gehalten – ein Onkel von mir ist durch einen von ihnen umgekommen, als ich ein kleines Mädchen war – schließlich war es Silvester, also …« Sie hustete und rang nach Luft. Ich führte ein Glas Wasser an ihre Lippen.
»Ich fürchte, der Champagner ist alle«, sagte ich, während sie die Flüssigkeit gierig schluckte.
»Das schmeckt noch besser.« Sie leerte das Glas und ließ sich zurück auf ihr Kopfkissen sinken. »Ich sollte mich nicht so aufregen. Das liegt wahrscheinlich an dem ganzen Gerede über Sex.«
»Da muss ich wohl was verpasst haben«, sagte ich, und sie lachte.
»Nein, das Beste kommt erst noch.« Sie räusperte sich. »Na ja, so gut nun auch wieder nicht.«
»Nicht?«
»Es war allerdings auch nicht schlecht«, präzisierte sie.
»Was sagt man noch über Sex? Wenn es gut ist, ist es richtig gut, und wenn es schlecht ist, ist es immer noch gut. Diese Art von schlecht war es. Können Sie mir folgen?«
Wieder nickte ich, obwohl meine eigenen sexuellen Erfahrungen definitiv eher schlecht als gut waren.
»Wir kamen also gegen halb eins nach Hause, vielleicht ein wenig später. Ist vermutlich auch nicht so wichtig, es war jedenfalls später, als wir normalerweise aufgeblieben sind, und wir waren beide erschöpft. Ich weiß nicht, warum wir gedacht haben, dass wir in jener Nacht miteinander schlafen mussten, bloß weil Silvester war. Ich meine, wir waren schließlich keine Backfische mehr. Wir waren beide Ende siebzig, Herrgott noch mal. Und es war auch nicht so, als würden wir nicht am nächsten Morgen nebeneinander aufwachen, schließlich schliefen wir beide schon fast ein halbes Jahrhundert lang miteinander.« Sie hielt inne. »Ist Ihnen das unangenehm?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Das freut mich. Denn ich rede eigentlich sehr gern darüber. Das habe ich früher nie gekonnt, wissen Sie. Jedenfalls nicht laut. Sind Sie sicher, dass Sie nichts dagegen haben?«
»Ganz sicher.«
»Meiner Erfahrung nach hören junge Leute nicht gerne von alten Menschen, die Sex haben. Sie denken, es ist, ich weiß nicht … irgendwie igitt«, meinte sie schließlich.
Ich lachte. »Igitt?«
Gutes Wort , hörte ich Alison sagen.
Rasch verdrängte ich jeden Gedanken an Alison. Seit dem Zwischenfall in ihrem Haus hatte ich sie und ihren Bruder praktisch nicht mehr gesehen. Am nächsten Morgen war Alison früh vorbeigekommen, hatte sich erneut für das unangemessene Verhalten ihres Bruders entschuldigt und mir versichert, dass er in wenigen Tagen abreisen würde. Doch Lance’ gemieteter Lincoln stand noch immer in meiner Auffahrt, als
ich am Abend zur Arbeit aufgebrochen war, während das Gemälde, das Alison mir geschenkt hatte, weiterhin auf dem Wohnzimmerfußboden lag und seiner Hängung harrte.
»Vor allem Kinder mögen den Gedanken, dass ihre Eltern miteinander schlafen, überhaupt nicht, auch wenn sie älter sind und es eigentlich besser wissen müssten. Sie betrachten ihre eigene Empfängnis lieber als eine Art Wunder oder trösten sich mit dem Gedanken, dass ihre Eltern es nur dieses eine oder vielleicht noch ein zweites Mal gemacht und dann nach Komplettierung der Familie ganz damit aufgehört haben. Aber, Gott, Steve und ich haben es andauernd gemacht. Verzeihung, Ihr Gesichtsausdruck sagt mir, dass das eine ziemlich taktlose Bemerkung war.«
»Nein, natürlich nicht«, stotterte ich und strich mir eine unsichtbare Strähne aus der Stirn, während ich versuchte, eine gelassene Miene aufzusetzen. Ich dachte an meine eigenen Eltern und daran, wie sicher ich gewesen war, dass meine eigene Geburt eine Laune der Natur gewesen und Sex etwas war, was sie einmal ausprobiert und so gründlich unangenehm gefunden hatten, dass sie es nie wieder versucht hatten, was auch der Grund dafür sein musste, dass ich ein Einzelkind war. Nun erklärte Myra mir, dass das nicht unbedingt der Fall gewesen sein musste.
»So genau will man es gar nicht wissen«, scherzte
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