Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Dienstwagen genommen. Und dann bin ich drauflos gefahren. Ohne Ziel, Hauptsache weg.«
Sie sah nochmals zu Tür, bevor sie fortfuhr. »Auf der Straße nach Marienbüren ist dann etwas Seltsames passiert. Jakob hockt da neben mir auf dem Beifahrersitz und ist immer noch ganz mitgenommen. Seine Hände zittern, und er wirkt völlig verängstigt. Und dann, von einer Sekunde auf die andere, wird er ruhig. Verstehst du? Sein ganzer Körper kommt zur Ruhe. Er sieht auf, guckt mich an, dann die Landschaft. So, als wäre er gerade aufgewacht und müsste sich erst mal orientieren. Ich frage: ›Jakob, ist alles in Ordnung?‹ Und er antwortet: ›Natürlich. Sind wir bald da?‹ Diese Frage fand ich völlig schräg. Verstehst du, wir hatten ja noch gar nicht darüber gesprochen, wohin die Fahrt überhaupt geht. Dann wollte ich ihn auf den Einbrecher ansprechen und auf die Sache mit der Talbrücke. Aber nichts. Er wich aus, wurde vage und schwammig. Er konnte im Grunde gar keine genauen Angaben machen. Als ich ihm versichert habe, dass er sich in die Tiefe stürzen wollte, war er total erschrocken. Das wirkte alles, als wüsste er gar nichts mehr davon. Als hätte er alles vergessen, was passiert ist.«
»Er stand vielleicht unter Schock. Da sind Gedächtnislücken ganz normal.«
»Aber warum sagt er mir das nicht: ›Ich steh total unter Schock und kann mich nicht erinnern?‹ Warum? Da stimmt doch was nicht.«
»Und da hast du dann entschieden, ihn in deine Wohnung zu bringen? Denkst du, das war eine gute Idee?«
»Wohin hätte ich ihn denn sonst bringen sollen? Abends sind im Stift keine Pädagogen mehr anwesend. Da gibt es nur noch die Rufbereitschaft. Ich konnte ihn doch nicht alleine lassen, nach allem, was passiert ist.«
Renate ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen.
»Und jetzt ist er da drin?«, fragte sie und deutete auf Sannas Wohnungstür. »Dann komm. Ich möchte ihn mir mal ansehen.«
Renate wandte sich zur Tür, doch Sanna rührte sich nicht vom Fleck. Da gab es also noch etwas. Renate sah sie fragend an, aber Sanna schwieg beharrlich.
»Das war noch nicht alles? Raus mit der Sprache.«
»Nun ja.« Sie zögerte. »Es ist etwas sehr Merkwürdiges passiert. Ich war am Nachmittag mit Jakob in der Turnhalle. Da hat er sich … Er hat sich Jannis genannt.«
Renate versteifte sich. Es war ein Gefühl, als packte eine kalte Hand nach ihr. Sie fragte sich, was um alles in der Welt hier vorging.
Sanna wirkte ganz verloren auf dem Treppenabsatz.
»Kann er von deinem Bruder wissen?«, fragte Renate.
Sanna schüttelte den Kopf.
»Hat er gesagt, woher er diesen Namen hat?«
Wieder ein Kopfschütteln.
Renate stemmte energisch die Hände in die Hüfte.
»Gehen wir rein«, ordnete sie an. »Ich möchte ihn jetzt endlich kennenlernen.«
Das musste alles ein dummer Zufall sein, dachte Renate. Hier wusste keiner was von Jannis. Ein Zufall war das Einzige, was Sinn machte.
Sanna schlich an ihr vorbei und öffnete die Tür. Renate trat in den Wohnungsflur. Umzugskisten standen überall herum. Regalbretter lehnten an der Wand. Zwei Schränkchen versperrten den Weg in die Küche. Offenbar war die Umzugsfirma inzwischen da gewesen. Renate nahm sich vor, Sanna beim Auspacken zu helfen, wenn diese Sache mit Jakob erst geklärt war.
Neben der Wohnzimmertür stand ein offener Karton. Ein Schlafsack und eine Decke ragten heraus. Wie Renate ihre Nichte kannte, plante die offenbar, Jakob auf der Couch übernachten zu lassen. Einen psychisch auffälligen Jungen, der scheinbar völlig unberechenbar war. Das war mal wieder typisch für Sanna. Renate schüttelte den Kopf. Da würde sie noch ein Wörtchen mitreden.
Im Wohnzimmer standen ebenfalls Kisten herum. Ein Tisch war an die Wand gerückt, Bücherstapel umrahmten ihn, eine Gardinenstange lehnte neben dem Fenster. In der Zimmerecke erhob sich jemand von der Schlafcouch. Ein junger Mann, zart und zerbrechlich, mit einem fein geschnittenen Gesicht und beinahe elfenbeinfarbener Haut. Das musste dieser Jakob sein.
Renate verstand sofort, warum sich Sanna um ihn kümmerte. Welpencharme gepaart mit einer Aura der Verzweiflung. Das hatte für ihre Nichte offenbar gereicht, um augenblicklich jede Vorsicht über Bord zu werfen.
»Guten Tag, junger Mann«, sagte sie freundlich. »Ich bin Renate Thun, Sannas Tante.«
Er nickte. Gab ihr höflich die Hand.
»Mein Name ist Jakob. Sanna hat mir schon von Ihnen erzählt.«
»Ja. Sanna fragt sich wohl, was sie jetzt mit dir
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