Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
alles gähnend leer, die Geschäfte würden erst später belebt sein.
Renate war dennoch hellwach. Sie saß in ihrem Auto und wartete. Den Rückspiegel hatte sie so eingestellt, dass sie die Einkaufsstraße gut überblicken konnte. Tief in den Sitz gerutscht, ließ sie nichts aus den Augen. Wenn sie richtig informiert war, würde gleich Gertrud Hillenbäumer auftauchen, die Frau, wegen der sie hier war. Eine zufällige Begegnung auf der Straße. Eine nette Plauderei. Nichts Offizielles. Damit würde sie am meisten erreichen.
Sie war noch immer aufgekratzt. Am vergangenen Abend war sie auf eine ziemliche Sensation gestoßen. Jakob Blank, Sannas Schützling, der aus der Psychiatrie geflohen war, stammte von dem Bauernhof, den die Polizei ins Visier genommen hatte. Es gab eine Verbindung. Jakob hatte das Kind auf dem Phantombild erkannt, das war Renate sofort klar gewesen, auch wenn er das abgestritten hatte. Sollte die Polizei mit ihrem Verdacht recht behalten, und davon war Renate überzeugt, dann handelte es sich bei dem toten Kind aller Wahrscheinlichkeit nach um die Schwester von Jakob. Er musste gewusst haben, was passiert war, sonst hätte er nicht geschwiegen.
Es hatte mehrere Gläser Weinbrand gebraucht, bis Renate sich so weit beruhigt hatte, dass sie etwas Schlaf fand. Heute Morgen hatte sie sich dann gleich wieder an die Recherchen gemacht. Gertrud Hillenbäumer ging mittwochs erst zur dritten Stunde in die Realschule. Den Morgen nutzte sie für Einkäufe im Ortskern. Bestimmt würde sie gleich auftauchen.
Renate hatte ein gutes Gefühl. Sie war ganz nah dran an der Geschichte. Ihr bot sich die Möglichkeit, es allen zu zeigen. Eine einmalige Chance.
Natürlich würde sie nicht wieder wettmachen, was damals passiert war. Das war ihr klar. Dieser Zug war ein für alle Mal abgefahren. Bei der Frankfurter Rundschau war sie eine Unperson, und daran würde sich nichts ändern. Aber das musste ja nicht heißen, dass ihre Karriere zu Ende war. Kleine Schritte in Richtung Bielefeld waren immer noch möglich. Außerdem wäre es eine Genugtuung, wenn ihre alten Weggefährten erführen, was für eine Story sie ans Licht gezerrt hatte. Das alte Zirkuspferd war also noch zu etwas gut.
Am Ende der Straße tauchte eine Frau auf mit der Statur eines Michelin-Männchens. Dabei war sie nicht einmal wirklich fett, es waren eher der dicke Parka und ihre unvorteilhaften Rundungen, die den Eindruck entstehen ließen. Sie stapfte entschlossen die Einkaufsstraße entlang. Das Gesicht zur Faust geballt und die Augen trotz des diesigen Wetters hinter einer Sonnenbrille verborgen. Die dünnen Haare standen in alle Richtungen ab, ihre Haut war fahl und grau. Wer Gertrud Hillenbäumer nicht kannte, wäre niemals auf die Idee gekommen, dass diese Frau bei aller Ruppigkeit ein Herz aus purem Gold besaß.
Renate wartete, bis sie an ihrem Wagen vorbei war, dann öffnete sie die Tür und schlich hinterher. Gertrud Hillenbäumer blieb vorm Modehaus Maier stehen und nahm an einem Verkaufsständer ein paar Windjacken in Augenschein. Renate schlenderte an ihr vorbei, scheinbar in Gedanken versunken. Doch wie gewohnt entging Gertrud nichts von dem, was um sie herum passierte.
»Renate! Willst du etwa an mir vorbeilaufen, ohne Guten Morgen zu sagen?«
»Du lieber Himmel, Gertrud. Ich hab dich nicht gesehen. Ich bin noch gar nicht richtig wach. Entschuldige bitte. Guten Morgen.«
»Das will ich doch meinen.« Gertrud gab ihr die Hand und zeigte ein schroffes Lächeln. »Um diese Uhrzeit hätte ich nicht mit dir gerechnet, Renate. Dein Sohn erzählt immer, du legst dich wieder hin, wenn er zur Schule geht.«
Das war typisch für Aron. Nicht einmal vor seiner Klassenlehrerin behielt er solche Dinge für sich. Gertrud Hillenbäumer unterrichtete Deutsch und Geschichte an der Marienbürener Realschule. Sie war mit ihren einundsechzig Jahren eine Institution in Marienbüren. Es gab kaum einen Dörfler unter vierzig, der nicht einmal ihr Schüler gewesen war.
»Wie ich höre, hast du Familienzuwachs bekommen«, meinte sie mit einem Grinsen. »Deine Nichte aus Berlin wohnt jetzt am Kirchplatz, stimmt’s?«
»Sanna, ja. Sie ist ein wundervolles Mädchen.«
»Die meisten jungen Leute nehmen den Zug in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollen unbedingt hier weg.«
»Sanna war schon immer anders. Sie arbeitet im Stift Marienbüren, dort gibt sie Sportkurse für die Bewohner.« Das entlockte Gertrud Hillenbäumer ein anerkennendes Nicken. Die
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