Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Arbeit in einer karitativen Einrichtung war für sie per se etwas Gutes. »Aber da ist ja in letzter Zeit eine Menge los«, fuhr Renate fort. »Stell dir vor, Jakob Blank ist im Stift aufgetaucht. Du weißt schon, dieser Junge, der aus der Psychiatrie abgehauen ist. Da wusste erst keiner, wer er war, und sie haben ihn im Stift wohnen lassen.«
Gertrud Hillenbäumer war sechs Jahre lang die Klassenlehrerin von Jakob Blank gewesen. Renate konnte davon ausgehen, dass sie über die Sache Bescheid wusste.
»Und Sanna … Stell dir vor, sie wollte ihn gleich mit nach Hause nehmen. Sie ist ein gutes Kind, aber manchmal übertreibt sie es mit ihrer Nächstenliebe.«
»Jakob …« Ihr Gesicht wurde nachdenklich. »Er hat bestimmt gedacht, im Stift können sie ihm helfen. Schlimme Geschichte mit dem Jungen. Ich hätte mir etwas anderes für ihn gewünscht.«
»Hast du ihn denn unterrichtet?«, fragte Renate scheinheilig. »Kennst du ihn persönlich?«
»Ja. Er hatte schon immer Probleme. Aber dass er so schwer erkrankt … Und dann noch der Ausbruch aus der Klinik. Ich mache mir wirklich Sorgen. Nun ja, er hat es nie leicht gehabt, der Junge. Das Elternhaus, die Umstände da. Er hätte mehr Förderung gebraucht. Jemand hätte sich kümmern müssen.«
Renate stutzte. Das hörte sich gar nicht nach Gertrud Hillenbäumer an. Offenbar war ihr die Verwunderung anzusehen, denn Gertruds Stimme wurde schneidend.
»Glaub nicht, dass ich nicht alles versucht hätte. Ich bin mehrmals zu den Eltern rausgefahren. Ich wollte mit ihnen über Jakob sprechen, über seine Probleme in der Schule. Zusammen überlegen, woran das liegen könnte. Daran arbeiten. Aber ich habe mir nur Abfuhren eingeholt. Einmal hab ich Jakobs Vater sogar in seiner Stammkneipe abgefangen. Ich dachte, vielleicht ist es besser, ihn in einer anderen Umgebung zu sprechen. Aber nichts. ›Lassen Sie uns in Ruhe!‹, was anderes hab ich nicht zu hören bekommen.«
»Keiner macht dir Vorwürfe, Gertrud.«
»Oh doch. Ich mache mir Vorwürfe, Renate. Aber Jakob war nicht das einzige Kind mit Problemen. Da sind noch Hundert andere, die Schwierigkeiten haben. Weil ich mir bei Jakob nicht zu helfen wusste, habe ich schließlich das Jugendamt eingeschaltet. Aber die haben nur Dienst nach Vorschrift gemacht. Haben bei den Blanks angerufen und ihre Hilfe angeboten. Und das war’s.«
Ihr Gesicht verhärtete sich und nahm einen abweisenden Ausdruck an. Nur wer sie gut genug kannte, wusste, dass sie damit Bekümmerung ausdrückte.
»Wahrscheinlich hätte ich mehr tun müssen«, sagte sie. »Ich habe mir vorgenommen, die Augen offen zu halten. Aber irgendwie ist mir Jakob durchgerutscht. Er hat letzten Sommer seinen Abschluss gemacht.«
»Was waren das denn für Probleme, die Jakob in der Schule hatte?«
»Er war Einzelgänger, er hatte keine Freunde. Manchmal haben die anderen Kinder ihn gehänselt, aber meistens haben sie ihn in Ruhe gelassen. Er war seltsam, einige hatten wohl auch Angst vor ihm. Man konnte ihn nie richtig einschätzen. Was auch merkwürdig war: In seinen Leistungen war er nie Mittelmaß. Entweder war er besonders gut oder besonders schlecht. Einsen oder Fünfen, dazwischen gab es nichts. Er war oft fahrig, irgendwie durcheinander. In der einen Geschichtsstunde konnte er mir alles über den Deutsch-Französischen Krieg erzählen, sogar mit Einzelheiten, die nicht im Schulbuch stehen. Und in der nächsten Stunde war es, als würde er nicht einmal wissen, dass es diesen Krieg überhaupt gegeben hat. Das war wirklich verwirrend. Als hätte er geschwänzt und stattdessen seinen Zwillingsbruder in die Schule geschickt.« Sie seufzte. »Er hat es einem manchmal nicht leicht gemacht. Dann saß er da und sagte plötzlich, er heiße David. Er wolle jetzt nicht mehr Jakob genannt werden, sondern David. Ziemlich anstrengend, oder? Und wenn die anderen ihn auslachten, dann wurde er richtig wütend.«
Seltsam. Aber irgendwie passte das alles zu dem, was Sanna erzählt hatte. Jakobs Verhalten, nachdem sie ihn von der Brücke fortgebracht hatte. Und es passte dazu, dass Jakob sich plötzlich Jannis genannt hatte. Renate hatte das Gefühl, hier auf etwas gestoßen zu sein, das wichtig sein könnte. Bevor sie jedoch weiter nachhaken konnte, wechselte Gertrud das Thema.
»Aber nun erzähl du mal, Renate. Ich habe deinen Artikel auf der Ostwestfalenseite gelesen. Über den Erdrutsch. Der war gut. Ich wusste gar nicht, dass du auch für den überregionalen Teil
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