Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
dir irgendwann wieder ein.«
Der Werbeblock war zu Ende, und die Castingshow wurde fortgesetzt. Doch beide waren mit den Gedanken woanders. Sanna fiel es schwer, seine Erinnerungslücken zu akzeptieren. Sie hatte das Gefühl, den Antworten ganz nah zu sein.
»Was ist mit den Männern in der Scheune?«, fragte sie.
Jakob antwortete nicht sofort. Er versteifte sich.
»Welche Männer meinst du?«
»Bei euch auf dem Hof. In eurer Scheune. Da waren doch Männer, oder nicht? Wer war das? Was haben sie da gemacht?«
Er starrte sie an. »Ich … ich weiß von keinen Männern.«
Sanna zog die Brauen zusammen. Log Jakob ihr offen ins Gesicht, obwohl er gestern noch etwas anderes erzählt hatte? Das wäre absurd. Aber Sanna glaubte ihm in diesem Moment. Er sagte die Wahrheit. Trotzdem lag Bestürzung in seinem Blick. Es war, als könnte er den Abgrund spüren. Das Grauen darin. Er wollte sich nicht erinnern. Sanna setzte ihn mit dieser Frage unter Stress. Unruhe schien ihn zu erfassen. Sie glaubte bereits, er würde wieder eine dieser sonderbaren Wandlungen durchleben, so wie in der vergangenen Nacht. Doch das passierte nicht. Er wirkte nur erschöpft. Und traurig.
Nach einer Weile sagte er: »Ich habe manchmal Angst, dass ich verrückt werden könnte.«
Sanna war überrascht von diesem Bekenntnis. Sie wartete ab, ob noch etwas folgen würde. Und tatsächlich fuhr er mit leiser Stimme fort: »Ich habe Probleme in meinem Kopf. Ich kann mich an viele Sachen nicht erinnern. Es ist … ach, verflucht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist.«
»Jakob …« Sie rutschte vorsichtig an ihn heran. »Vielleicht wäre es dann gar nicht schlecht, mal mit einem Therapeuten darüber zu reden. Wenn du den Leuten etwas Zeit gibst, könnten die dir vielleicht weiterhelfen.«
»Nein. Auf keinen Fall. Mein Vater hat mich dahin gebracht, weil er mich loswerden wollte. Ich gehöre da nicht hin. Die wollen mir nicht helfen. Die wollen mich da lebendig begraben.«
Sanna wollte das Thema vorerst auf sich beruhen lassen. Sie stand auf, nahm die leeren Teller und steuerte die Küche an. In der Tür blieb sie stehen.
»Ich habe etwas Geld gespart«, sagte sie. »Ich kann dir das Flugticket bezahlen. Und dir noch was für den Neuanfang geben, damit du ein paar Wochen überleben kannst.«
»Das würdest du machen? Wirklich? Ich zahle dir das Geld auch zurück! Sobald ich Arbeit habe, fest versprochen.«
»Ja, ich weiß. Du musst dich damit nicht beeilen.«
»Oh, danke, Sanna. Das ist wirklich toll!«
Sie lächelte. »Ist schon gut. Ich hole meinen Laptop, dann können wir direkt einen Flug buchen. Es soll doch bei London bleiben?«
»Ja, warum nicht. Hauptsache weg von hier. London ist perfekt.«
Sie nickte, wandte sich ab und ging in die Küche, wo sie das schmutzige Geschirr in die Spüle stellte. London. Jakob war noch keine achtzehn. Sie fragte sich, ob sie sich hier vielleicht strafbar machte. Trotzdem. Irgendwie glaubte sie, es wäre das Beste für ihn, zu verschwinden. Sie war den Weg bis hierhin gegangen, und jetzt würde sie ihn auch bis zum Ende gehen.
Ihr Laptop lag auf dem Küchentisch. Beim Reinkommen hatte sie die Post darauf abgelegt. Sie schob die Briefe zur Seite und nahm das Gerät. Die Karte vom Blumenladen rutschte heraus und segelte auf den Boden. Sanna hob sie auf und betrachtete sie. Das Rosenmotiv wirkte ein wenig aufdringlich, fand sie. Aber wahrscheinlich hatte der Laden nicht die Mittel, einen guten Grafiker zu bezahlen. Ein Wunder, dass sich die Leute überhaupt die Mühe gemacht hatten, sie persönlich anzuschreiben. Vielleicht würde sie bei dem Laden tatsächlich mal vorbeischauen und ein paar Blumen für Tante Renate kaufen.
Sie legte die Karte zurück auf den Poststapel, ging mit dem Laptop zur Tür und schaltete das Licht aus. Die Türen waren verschlossen, deshalb fühlte sie sich sicher. Alles schien in Ordnung zu sein.
Ihren schweren Fehler würde sie erst viel später erkennen.
Böttger und die Schulte erreichten das Präsidium um kurz nach eins. Das war ein guter Zeitpunkt. Mittagspause: Wer nicht im Außeneinsatz war, hockte jetzt in der Kantine oder bei einer Tasse Kaffee im Gruppenraum. Es würden sich schnell alle zusammentrommeln lassen, die im Haus waren. Und dann konnten die Vernehmungen angegangen werden.
Einer von den Hofbewohnern hatte das Kind umgebracht, davon war Böttger überzeugt. Vielleicht war es gar nicht geplant: Das Kind schrie und quengelte, bis einer der Erwachsenen
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