Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
Auch der Kollege aus dem Wohnzimmer war plötzlich da. Er schien kaum glauben zu können, was er sah.
Alle blickten Böttger erwartungsvoll an. Es dauerte, bis er seine Sprache wiedergefunden hatte.
»Festsetzen, die ganze Bagage«, befahl er. »Nehmt sie alle fest, so schnell wie möglich. Und das Zeug hier kommt in die KTU . Das soll genau untersucht werden, auf Haare und Hautschuppen und was sonst noch für eine Analyse taugt. Ich will so schnell wie möglich einen DNA -Abgleich mit dem toten Kind haben.«
Er wandte sich wieder zu den Umzugskartons und betrachtete den Fund. »Jetzt haben wir euch«, sagte er.
10
Sanna trat auf den Kirchplatz. Die Abendsonne tauchte alles in ein sanftes Licht. Eine Nachbarin stand vor dem Hauseingang und zupfte welke Blüten von ihren Geranien. Aus der Gastwirtschaft hinter der Kirche strömte eine Handvoll Touristen und bummelte über den Platz. Ein junger Kollege aus dem Stift fuhr auf dem Fahrrad vorbei, ein bärtiger Sozialarbeiter aus den Werkstätten klingelte fröhlich und winkte ihr zu. Sanna winkte ebenfalls, wünschte einen Guten Abend und ging weiter. Die Welt schien in Ordnung in Marienbüren. Keiner wusste von ihrem kleinen Geheimnis.
Ihre Wohnung rückte ins Blickfeld. Die Fenster waren geschlossen, in den Scheiben spiegelte sich der Himmel. Alles schien unbewegt. Auch wenn nichts zu sehen war, Jakob war bestimmt da oben. Diesmal würde er nicht einfach wieder abhauen.
Am Morgen hatte sie seinetwegen die Polizei angelogen. Jakob hatte gerade am Küchentisch gesessen und gefrühstückt, als sie den Kommissaren gut gelaunt gesagt hatte, sie habe nicht die leiseste Ahnung, wo Jakob sein könne. Bei Tante Renate, die kurz nach ihnen aufgetaucht war, da war ihr das Lügen allerdings nicht so leicht gefallen. Die hatte Sanna mit einem Blick fixiert, dem sie nur schwer standhalten konnte. Schon als Kind war sie regelmäßig unter diesem Röntgenblick zusammengebrochen, wenn sie heimlich ein Bonbon aus Tante Renates Porzellandose stibitzt hatte. Aber diesmal hatte sie den Blick ausgehalten, und schließlich war Tante Renate verärgert davongestapft.
Sanna kramte ihren Haustürschlüssel hervor. Sie sah noch mal zu ihren Fenstern hoch. Sie hoffte inständig, dass es richtig war, was sie hier tat. Jakob Unterschlupf zu gewähren, für ihn zu lügen und ihn zu verstecken.
Sie tat das alles, obwohl Jakob ihr Angst gemacht hatte: Die letzte Nacht war für Sanna verstörend gewesen. Es war, als wäre Jakob plötzlich jemand anderes gewesen. Er war völlig durchgedreht, als sie ihn gedrängt hatte, von dem toten Mädchen zu erzählen.
Sanna hatte Jakob bis dahin vor allem Bösen in der Welt beschützen wollen. Aber gestern Nacht hatte sie bei ihm selbst etwas Abgründiges entdeckt. Etwas Bösartiges. Nur für einen kurzen Augenblick, danach hatte er wieder völlig unschuldig gewirkt. Ein labiler Junge, der Hilfe brauchte. Trotzdem musste Sanna sich fragen: Durfte sie das Abgründige einfach ignorieren? Sollte sie die Sache nicht doch besser der Polizei überlassen?
Sie schloss die Haustür auf, trat ein und nahm die Post aus dem Briefkasten. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung sah sie alles durch. Der Nachsendeauftrag der Post funktionierte tadellos: Sogar alle Werbesendungen aus Berlin hatten sie erreicht. Dann waren da noch ein Brief ihrer Bank, offenbar ihre Kontoauszüge, und eine Postkarte mit einem auffälligen orangefarbenen Rosenmotiv. Sie drehte sie neugierig um. Sie stammte von einem Marienbürener Blumenladen. Ein Gutschein für eine Gratisrose. Ein Werbeflyer, vermutete Sanna zunächst, doch dann sah sie, dass ihre Adresse sorgfältig aufgeschrieben war. Mit einem Stirnrunzeln steckte sie die Karte zu der anderen Post und zog den Wohnungsschlüssel hervor.
Sie hatte Jakob eingeschärft, die Wohnung von innen zu verriegeln, doch als sie die Schlösser öffnen wollte, stellte sie fest, dass alle unverschlossen waren. Die Tür ließ sich einfach aufdrücken. Sanna war augenblicklich wachsam. Sie lauschte. Doch da war nichts. Vorsichtig schob sie die Tür auf. Bei dem lauten Quietschen verzog sie das Gesicht. Sie hielt inne. Alles war still.
»Hallo? Jakob? Bist du da?«
Keine Antwort. Vielleicht war er einfach unterwegs. Sie hatte ihm einen Zweitschlüssel gegeben. Er war hier nicht eingesperrt. Vorsichtig trat sie in die Wohnung. Warf einen Blick ins Wohnzimmer, dann in die Küche. Keine Spur von Jakob.
Sanna trat zurück in den Flur, um die Wohnungstür zu
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