Schlaf süß im tiefen Grabe: Kriminalroman (German Edition)
schließen und den Riegel vorzulegen. Da stand er plötzlich vor ihr. Wie aus dem Nichts. Sanna stieß einen Schrei aus. Die Angst war sofort wieder da, so wie in der vergangenen Nacht. Doch in seinen Augen war nichts, vor dem sie sich fürchten musste. Der Jakob, den sie gestern Nacht kennengelernt hatte, war nicht hier. Es war nur die vertraute, ängstliche und scheue Ausgabe.
»Meine Güte, hast du mich erschreckt!«
»Tut mir leid. Ich habe dich nicht gehört.«
»Du solltest doch die Tür abschließen, wenn du zu Hause bist. Warum war hier alles offen?«
»Das muss ich vergessen haben. Kommt nicht wieder vor.«
»Du musst vorsichtig sein. Das ist kein Spaß. Die Tür muss verriegelt sein. Am besten wäre es, du würdest die Wohnung nicht verlassen.«
»Ja, schon gut. Ich hab’s verstanden. Sorry.«
Sanna ging zur Tür, warf sie ins Schloss und legte den Riegel vor. Erst jetzt nahm sie den Geruch in ihrer Wohnung wahr. Gebratenes Fleisch und Curry.
»Ich habe gekocht«, sagte Jakob. Er strahlte übers ganze Gesicht. »Ist total lecker. Ich hoffe, du hast Hunger.«
Sanna spürte, wie die Anspannung von ihr abfiel. Sie lächelte. »Und ob ich Hunger habe. Es riecht wirklich gut hier.«
Sie lümmelten sich mit ihren Tellern aufs Sofa vor dem Fernseher. Eine Castingshow lief im Abendprogramm. Sanna interessierte sich nicht dafür, aber Jakob kannte offenbar alle Teilnehmer genau. Er lachte über Witze, die sie nicht verstand, und hatte einen klaren Favoriten. Sanna konnte dem Geschehen kaum folgen, trotzdem genoss sie das Zusammensein. Jakobs Lachen war plötzlich so unbeschwert und spontan, als wäre er ein ganz normaler Teenager. Irgendwie tröstete sie das. Es ließ sie vergessen, was gestern Nacht gewesen war.
In einer Werbepause stellte Sanna die Teller auf den Boden und wandte sich Jakob zu.
»Hast du eigentlich eine Idee, wie’s weitergehen soll?«, fragte sie. »Du kannst dich hier nicht ewig verstecken.«
Sein Gesicht verlor sofort alles Unbeschwerte.
»Ich weiß. Ich will ja auch weg aus Marienbüren. Möglichst weit. Ich träume schon lange von London. England stelle ich mir toll vor.«
»Und was willst du da machen? Hast du darüber auch schon nachgedacht?«
»Keine Ahnung. Vielleicht einen Job irgendwo in einer Küche. Gemüse putzen und Teller waschen.«
»Du willst also definitiv weg von hier.«
»Ja. Ich muss mir nur überlegen, wie ich das Geld für das Flugticket besorge.«
»Und was ist mit deiner Schwester?«, fragte sie.
»Die ist tot«, sagte er matt. »Ich kann ihr nicht mehr helfen.«
»Aber du kannst die Sache doch nicht einfach auf sich beruhen lassen. Der Mörder muss gefasst werden. Es muss doch Gerechtigkeit geben.«
»Und was denkst du, soll ich da tun?«
»Ich weiß nicht. Mit der Polizei reden. Ihnen alles sagen, was du weißt.« Auch wenn das wahrscheinlich nicht besonders viel ist, fügte sie in Gedanken hinzu. Jedenfalls nicht, wenn man nur seine bewussten Erinnerungen nahm.
»Wenn ich zur Polizei gehe, stecken die mich in die Klinik.«
»Aber ist dir denn egal, was mit Maikes Mörder passiert?«
Er schwieg. Sie spürte sein schlechtes Gewissen. Vielleicht hatte er ja recht, und es war für ihn tatsächlich das Beste, einfach alles hinter sich zu lassen.
»Was ist mit Maike passiert?«, fragte sie.
»Ich glaube, dass Vater sie getötet hat. Vielleicht wollte er das gar nicht, kann sein, dass er sie nur verprügeln wollte, und dann ist das passiert.«
»Aber du weißt es nicht sicher?«
Jakob kniff die Augen zusammen und fixierte den Boden. Seine Gesichtsmuskeln bewegten sich. Er grübelte, quälte sich. Doch offenbar ohne Ergebnis. Es war wie bei der Sache auf der Brücke. Er hatte einfach keine Erinnerungen mehr daran.
»Gab es einen Streit?«, versuchte Sanna ihm auf die Sprünge zu helfen.
»Ich weiß nicht mehr … Es ist, als ob …« Er schlug mit der Faust in ein Sofakissen. »Vielleicht hab ich das alles nur geträumt. Aber ich weiß, dass mein Vater das war. Er hat Maike das angetan.« Er sah Sanna hilflos an. »Das ist bestimmt wegen der Pillen in der Psychiatrie. Die haben mein Gedächtnis ausgelöscht. Ich bin mir ganz sicher.«
Sanna versuchte ihre Enttäuschung zu überspielen. »Das hat mit den Pillen nichts zu tun. Das war einfach der Schock. Das ist ganz normal. Viele Menschen haben keine Erinnerung mehr an etwas, das für sie schlimm war. An die letzten Minuten vor einem Unfall zum Beispiel. Quäl dich nicht. Bestimmt fällt es
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