Schlafende Geister
war, als würde man zusehen, wie jemand in einem dampfenden Haufen Hundescheiße nach seinen Kontaktlinsen sucht.
Ich stand da und beobachtete sie, einen Moment lang gelähmt von ihrer seltsamen Art, dann verließ ich mit einem verwirrten Kopfschütteln das Zimmer und ging ins Bad.
Es gab nicht viel dort zu sehen – Klo, Badewanne, Waschbecken, Toilettenschrank. Auf dem Waschbecken standen in einem Glas Zahnbürste und Zahnpasta und im Toilettenschrank über dem Waschbecken waren weitere Dinge, die Anna sicher mitgenommen hätte, wenn sie wegwollte – Tampons, Talkumpulver, Make-up-Entferner, Nagelfeilen … solche Sachen. Es gab auch eine größere Menge nicht rezeptpflichtiger Arzneimittel – Paracetamol, Gaviscon, Benylin, Night Nurse. Um ehrlich zu sein, der Schrank war so voll, dass wohl kaum jemand etwas herausgenommen haben konnte. Was erneut die Vermutung nahelegte, Anna habe vielleicht doch nicht einfach ihren Koffer gepackt und sei abgehauen.
Der Toilettenschrank war nicht sonderlich stabil, und als ich die Tür zudrückte, hörte ich im Innern etliches umfallen. Ich spielte mit dem Gedanken, mich nicht weiter darum zu kümmern, aber das kam mir verkehrt vor, also öffnete ich die Tür zentimeterweise wieder … und ein halbes Dutzend Flaschen und Tuben fiel heraus und verstreute Pillen und weiß der Himmel was auf dem Boden.
»Scheiße«, murmelte ich.
»Alles in Ordnung?«, rief Helen aus dem Schlafzimmer.
»Ja?«, rief ich zurück. »Ich hab nur was fallen gelassen, das ist alles. Kein Grund zur Sorge.«
Es war ein kümmerliches kleines Badezimmer mit wenig Platz, und als ich mich auf den Boden kniete, um die Sachen aufzuheben, stieß ich mit dem Fuß gegen die Abdeckplatte der Badewanne und trat sie los.
»Verdammte Scheiße «, flüsterte ich, drehte mich um und wollte den Schaden begutachten.
Kaputtgegangen war nichts. Die Platte hatte sich einfach gelöst, als ob sie vorher nicht richtig befestigt gewesen wäre. Und als ich genauer hinschaute und die lose Platte wegschob, um in den Hohlraum unter der Wanne zu blicken, merkte ich: Sie saß absichtlich lose, weil Anna die Stelle dahinter als Versteck benutzt hatte.
Was sie dort versteckte, war immer noch da: Heroin. Vier Päckchen, eine Spritze, eine Schachtel mit Nadeln, ein Paket Alkoholtupfer und ein Löffel.
Das veränderte alles. Es veränderte Annas Leben und die Welt, die sie bewohnte. Es machte sie verletzlicher, verzweifelter und ihr Leben riskanter. Es machte wahrscheinlicher, dass sie sich mit Leuten eingelassen hatte, die es nicht gut mit ihr meinten.
Und wenn sie abhängig war – was sich längst nicht mit Sicherheit sagen ließ, schließlich war es nicht unmöglich, dass sie das Zeug nur ab und zu nahm –, doch wenn sie wirklich abhängig war, wäre sie niemals freiwillig gegangen und hätte Heroin und Besteck einfach dagelassen.
Und das veränderte mein Denken.
Jetzt dachte ich, selbst wenn Helen Gerrishs Sorgen um ihre Tochter auf falschen Voraussetzungen beruhten, gab es vielleicht doch allen Anlass zur Sorge.
Als ich zurück ins Schlafzimmer kam, hockte Helen noch immer auf der Bettkante. Den Schmuck hatte sie allerdings beiseitegelegt, inzwischen saß sie einfach nur da und starrte ins Leere.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich leise.
Sie drehte sich langsam um und sah mich an. »Ja … ja, mir geht’s gut, danke.«
»Glück gehabt mit dem Schmuck?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, tut mir leid … das einzige Stück von Anna, das ich kenne, ist eine Kette, die sie immer getragen hat, und die ist nicht da.«
»Was für eine Kette? Können Sie sie beschreiben?«
»Es ist ein silberner Halbmond an einer Silberkette … Sie trug ihn jahrelang.« Helen wirkte einen Moment lang nachdenklich. »Ich weiß nicht mal, woher sie ihn hatte, verstehen Sie …«
»Ein silberner Halbmond?«, fragte ich.
Helen nickte. »Sie müsste ihn auch auf dem Foto tragen, das ich Ihnen gegeben habe.«
Ich nahm das Foto aus meiner Tasche und sah, dass sie recht hatte. Das Sonnenlicht funkelte von einer kleinen silbernen Mondsichel, die an einer Kette um Annas Hals hing.
»Okay«, sagte ich. »Na, das ist doch was.«
»Sind wir hier jetzt fertig?«
Ich nickte. »Wenn das für Sie in Ordnung ist.«
»Ja«, sagte sie leise. »Ja, ich möchte jetzt gern nach Hause.«
6
Es war fast neun, als wir den Wohnblock verließen und zum Wagen zurückgingen. Es regnete immer noch, nieselig fein und eisig. Die Straßen in
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