Schlafende Geister
fertigmacht, unternimmt sie alles, um Anna zu finden. Aber Sie …? Sie tun anscheinend gar nichts – außer sich wie ein verdammtes Arschloch zu benehmen und Ihre Frau zu behandeln wie ein Stück Scheiße. Das meine ich.«
»Ich liebe Anna sehr, Mr Craine«, sagte er nüchtern. »Das habe ich immer getan und werde ich immer weiter tun. Sie bedeutet mir alles. Sie ist mein kleines Mädchen.«
»Wo ist dann Ihr Problem? Wieso haben Sie was dagegen, dass ich versuche, sie zu finden? Ist es das Geld?«
»Doch nicht das Geld «, sagte er, angewidert von der bloßen Vorstellung.
»Was ist es dann?«
Er schloss für einen Moment fest den Mund und machte eine kleine, knirschende Bewegung mit den Zähnen. Dann, als ob er sich endlich entschieden hätte, mir die Wahrheit zu sagen, hob er den Blick und sah mich an. »Es ist nur … also, ich meine …« Er seufzte. »Ich will nur nicht, dass sie sich Hoffnungen macht, das ist alles. Ich glaube, es ist nicht gut für sie, verstehen Sie … so, wie sie nun mal ist. Es macht am Ende nur alles noch schlimmer für sie.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Na ja, man sieht das doch ständig im Fernsehen. In den Nachrichten. Diese Mädchen … die vermisst werden … das endet ja immer schlimm.«
»In den Nachrichten schon«, antwortete ich. »Aber doch deshalb, weil es nur, wenn es schlimm ausgeht, überhaupt in die Nachrichten kommt . Es gibt Tausende, die vermisst werden und nicht in den Nachrichten landen, weil ihnen einfach nichts passiert ist.«
Er sah mich an. »Dann glauben Sie, mit Anna könnte alles in Ordnung sein?«
»Ich weiß es wirklich nicht, Mr Gerrish. Aber was kann es schaden, wenn ich versuche, es herauszufinden? Selbst wenn es schlimm ausgeht – und ich behaupte nicht, dass das nicht sein kann –, wird es Ihrer Frau doch keinen Deut schlechter gehen, nur weil sie sich Hoffnungen gemacht hat, oder? Aber in der Zwischenzeit fühlt sie sich dafür vielleicht ein kleines bisschen besser.«
»Na ja«, sagte Graham. »Also, wenn Sie das so sehen …«
Er brach plötzlich ab, als Helen ins Zimmer kam.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. Instinktiv spürte sie, dass sich das Auftreten ihres Mannes verändert hatte.
»Alles okay«, sagte ich und stand auf. »Wir haben uns nur ein bisschen unterhalten.« Ich sah sie an. »Können wir dann los?«
Sie sah ihren Mann an. Er versuchte, sie anzulächeln, aber er war es offensichtlich nicht gewohnt, und das Einzige, was er zustande brachte, war ein angestrengter Ausdruck von Verlegenheit.
»Okay?«, sagte ich zu Helen.
Sie nickte, runzelte kurz die Stirn über sich selbst und dann gingen wir.
5
Sobald wir aus dem Haus waren und zurück in die Stadt fuhren, entspannte sich Helen Gerrish allmählich. Und schnell begriff ich, dass sie ein Mensch war, der im entspannten Zustand sehr viel redet. Als wir die Vororte von Hey erreichten und an der Megastore-Welt von Sainsbury’s, B & Q, Homebase und Comet vorbeifuhren, wurde mir erst bewusst, dass sie in den letzten fünf Minuten unentwegt gesprochen hatte. Und natürlich war das Einzige, worüber sie sprechen wollte, Anna: Anna war dies, Anna war das, Anna tat dies, Anna tat das … es schien, als ob sie lange gewartet hätte, es rauszulassen, und als könne sie sich nun, nachdem sie einmal angefangen hatte, gar nicht mehr bremsen.
Ich war damit einverstanden, dass sie die ganze Unterhaltung bestritt. Erstens musste ich mir so nicht überlegen, was ich hätte reden sollen. Und zweitens … na ja, so richtig hörte ich ihr nicht zu. Ich war viel zu beschäftigt, mir Gedanken über ihren Mann zu machen. Graham Gerrish: ein Mann, dessen siebzehnjährige Tochter in einem Zimmer geschlafen hatte, das in die Vorstellungswelt eines Kinderschänders gehörte; ein Mann, der das Zimmer selbst entworfen und gestaltet hatte und es jetzt benutzte, um Pornos zu gucken; ein Mann, der behauptete, seine Tochter zu lieben, aber die Anstrengungen und den Wunsch seiner Frau, ihre Tochter zu finden, missbilligte.
Ja, er war in der Tat ein Mann, über den es sich nachzudenken lohnte.
Es dauerte noch etwa zwanzig Minuten, bis wir Annas Wohnung erreichten. Sie lag in einem Stadtteil namens Quayside, gleich südlich vom Fluss. Quayside ist eine Gegend, die tagsüber ruhig ist, aber abends zum Leben erwacht, besonders an den Wochenenden. Früher hatte es hier einen intakten Hafenbereich gegeben, doch inzwischen sind die meisten alten Speicher und Werftanlagen zu Nachtclubs
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