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Schlafende Geister

Schlafende Geister

Titel: Schlafende Geister Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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gut, danke. Man kann … na ja, Sie wissen schon, man kann das nicht einfach abstellen, über Dinge nachzudenken.«
    »Nein«, sagte ich. »Das kann man nicht …«
    Sie sah mich einen Moment lang mit einem glasigen, gequälten Blick an.
    »Ich schau noch eben schnell ins Schlafzimmer und ins Bad und dann gehen wir, in Ordnung?«
    Sie nickte.
    Ich ging in Annas Schlafzimmer und schaltete das Licht an. Hier drinnen roch es stärker nach Zigarettenrauch und alles war viel unordentlicher als im Wohnzimmer – überall Kleiderhaufen, das Bett ungemacht, schmutzige Tassen und Teller auf dem Boden. Ich trat an das Bett und sah es mir genauer an. Ich wusste nicht recht, wonach ich suchte, doch schnell wurde mir klar, dass ich es wohl kaum in einem ungemachten Bett finden würde, was auch immer es war. Es ließ sich unmöglich feststellen, wann zum letzten Mal jemand in dem Bett geschlafen hatte, und selbst wenn irgendetwas darauf hingedeutet hätte, dass Anna hier Sex gehabt hatte – was, soweit ich sah, nicht der Fall schien –, würde mir das auch nicht weiterhelfen.
    Ich trat vom Bett weg und begann die Kommode an der Wand zu durchsuchen. Sie hatte sechs Schubladen, zwei kleinere oben nebeneinander, die anderen gingen über die volle Breite. In den beiden oberen war Unterwäsche, in der darunter lagen T-Shirts und Tops, in der nächsten Jeans und andere Hosen und die vorletzte enthielt Röcke. Alles ziemlich normal, Sachen, die man bei einer jungen Frau mit wenig Geld erwartete. Nichts allzu Gestyltes oder Teures, das meiste eher praktisch und schlicht … Dinge, die man bei Primark, Tesco oder TK Maxx kaufte.
    Doch in der untersten Schublade … also, die Sachen in der untersten Schublade waren weit weniger normal. Nicht unbedingt modischer oder teurer als der Rest, es war einfach ein völlig anderer Stil. Diese Sachen hatten überhaupt nichts Praktisches oder Schlichtes, eher im Gegenteil. Unglaublich kurze Röcke, Netzstrümpfe, Leder-Nietengürtel. Winzige Teile mit Reißverschlüssen vorn, bei denen es sich um irgendwelche Tops handeln musste. Lederhosen, eingerissene Jeans, die mehr Löcher hatten als Stoff, eine kleine weiße Bluse mit Schulkrawatte …
    Natürlich konnte es für all das auch eine völlig harmlose Erklärung geben – vielleicht hatte sie als Glamourgirl gemodelt oder trug so etwas bei Junggesellinnenabschieden. Vielleicht gefiel es ihr auch einfach nur, sich ordentlich aufzudonnern, wenn sie ausging …
    Oder vielleicht lag es auch nur an mir? Vielleicht waren die Sachen überhaupt nicht provozierend, sondern ich war bloß ein weltfremder alter Sack um die vierzig, der keine Ahnung mehr hatte und darum voreilige Schlüsse zog.
    Ich hockte am Boden, starrte in diese irritierende Schublade und versuchte mir darüber klar zu werden, was die Sachen bedeuteten – falls sie überhaupt etwas bedeuteten –, als ich ein Huschen hinter mir an der Tür hörte und dann, fast noch im selben Moment, Helen Gerrishs brüchige kleine Stimme.
    »Haben Sie schon was gefunden?«
    Hastig schloss ich die Schublade und stand auf. »Nein … nein, bis jetzt nichts, fürchte ich …«
    »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    Ja, dachte ich , schleichen Sie sich nie wieder von hinten an.
    »Ich glaube nicht«, sagte ich und warf einen Blick durch das Zimmer. »Ich bin hier drin sowieso gleich fertig.« Was nicht stimmte, aber ich wollte nicht in Annas Sachen herumwühlen, während mir ihre Mutter über die Schulter sah. Andererseits schien es auch nicht ganz in Ordnung, ihr zu sagen, sie solle mich allein lassen. Deshalb bat ich Helen, als ich auf dem Nachttisch ein paar Schmuckstücke neben einem Kästchen entdeckte: »Das heißt, vielleicht könnten Sie schnell noch Annas Schmuck durchsehen, während ich mich im Bad umschaue … wenn Ihnen das recht ist.«
    »Ihren Schmuck?«
    »Da drüben«, sagte ich und zeigte auf den Nachttisch. »Schauen Sie einfach, ob irgendwas fehlt …«
    »Aber ich weiß nicht –«
    »Kein Problem, werfen Sie einfach einen Blick drauf. Vielleicht erinnern Sie sich ja an was.« Ich lächelte sie an. »Okay?«
    »Na gut, wenn Sie meinen, das hilft.«
    Ich beobachtete sie, wie sie zögernd zum Nachttisch hinüberging, sich auf die Bettkante setzte und widerwillig ein Schmuckstück nach dem andern hochnahm. Sie fasste die Ketten und Armbänder an, als ob sie die Berührung kaum ertrüge, und der Ausdruck in ihrem Gesicht – gekränkt und gepeinigt – grenzte an Ekel. Es

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