Schlafende Geister
umarmte mich begeistert und küsste mich auf beide Wangen, dann führte sie mich hinein und schloss die Tür.
»Großer Gott, John«, sagte sie und fasste mich am Arm. »Ich habe gerade in den Nachrichten die Pressekonferenz wegen Anna Gerrish gesehen … Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du sie gefunden hast?«
Ich zuckte die Schultern. »Hm, ist ein bisschen kompliziert.«
»Ich hab versucht dich anzurufen, aber ich bin nicht durchgekommen.«
»Ja, tut mir leid. Die Presse hat ständig geklingelt, deshalb hab ich sämtliche Telefone abgestellt.«
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie und drückte leicht meinen Arm. »Ich weiß nicht, das muss doch ziemlich hart für dich sein …«
»Geht schon.«
»Großer Gott«, sagte sie kopfschüttelnd. »Dieser verdammte Anton Viner … ich kann das immer noch nicht glauben.« Sie sah mich an. »Hält Bishop dich auf dem Laufenden?«
Ich zuckte von Neuem die Schultern. »Er hat mir gesagt, was ich seiner Meinung nach wissen muss.«
»Ja«, murmelte sie und schüttelte wieder den Kopf. »Ich wette, das hat er, dieses elende Stück Scheiße.«
Und dann schaute ich hoch, weil ich hörte, wie Claudia Mercer die Treppe herunterkam.
»Hallo, John«, sagte sie lächelnd. »Wie geht es dir?«
»Danke, ganz gut, Mrs M.«
»Ich habe Leon gesagt, dass du hier bist. Er ist in seinem Arbeitszimmer.«
»Danke.«
»Möchtest du einen Tee oder Kaffee?«
Ich schüttelte den Kopf.
Sie lächelte wieder. »Na gut, aber sag mir Bescheid, wenn du deine Meinung änderst.« Und damit verschwand sie den Flur entlang.
»So nett ist sie zu mir nie, weißt du das?«, sagte Imogen schmunzelnd.
»Das habe ich gehört«, rief ihre Mutter zurück.
Imogen sah mich an. »Bleib nicht zu lange bei Dad, ja? Er versucht es zu überspielen, aber er wird zurzeit sehr schnell müde.«
Ich nickte. »Ich will nur kurz mit ihm reden.«
»Seh ich dich nachher noch?«
»Du kannst mich nach Hause fahren, wenn du willst.«
»Abgemacht.«
Leons Arbeitszimmer war ein kleiner, aber gemütlicher Raum am Ende des Flurs im zweiten Stock, überladen mit zu vielen Möbeln, zu vielen Regalen und allem möglichen Zeug – Ordnern, Unterlagen, Zeitschriften, Zeitungen. Leon hatte ein Schreibpult an der einen Wand, einen Schreibtisch an einer andern; ein vornehmer Ledersessel stand in der einen Ecke, ein Korbstuhl mit Kissen in der andern. Es gab Schränke und Aktenschränke, gerahmte Fotografien und Urkunden an den Wänden, einen kleinen Flachbildfernseher auf einem schwarzen Glastisch mit DVD-Stapeln daneben. Ein halbes Dutzend Karaffen aus Bleikristall war auf dem schmalen Sims über einem offenen Kamin aufgereiht und durch ein kleines quadratisches Fenster auf der gegenüberliegenden Seite drang die Schwärze der Nacht. Leon saß an seinem Schreibtisch, als ich hereinkam, einen Laptop geöffnet vor sich. »John«, sagte er warmherzig, klappte den Laptop zu und stand auf. »Komm rein, setz dich …«
Ich ging hinüber und schüttelte seine Hand, dann setzte ich mich in den Sessel.
Als Leon sich wieder auf seinen Stuhl niederließ und die Lesebrille abnahm, fiel es mir schwer, mir den Schock nicht anmerken zu lassen. Er war so viel gebrechlicher als beim letzten Mal, und das war erst zwei oder drei Monate her. Damals hatte er noch wie der alte Leon ausgesehen, den ich seit jeher kannte – groß, stark, robust, mit leuchtenden Augen. Aber jetzt … Er hatte eine Menge Gewicht verloren, doch nicht im positiven Sinne. Seine gelblich gewordene Haut hing schlaff an ihm herab und ließ sein Gesicht hager und ausgemergelt wirken. Eine Last schien ihn nach unten zu ziehen: Seine Schultern waren nach vorn gebeugt, der Kopf gesenkt. Auch die Augen waren getrübt. Jede Bewegung, die er machte, war steif und langsam, offenbar hatte er Schmerzen.
»Ich weiß«, sagte er und lächelte mich stoisch an. »Ich bin ein schrecklicher Anblick.«
»Gut siehst du jedenfalls nicht aus«, gab ich zu, unfähig, ihn anzulügen. »Was ist es – Krebs?«
Er nickte. »Bauchspeicheldrüsenkrebs.«
»Magst du drüber sprechen?«
»Nein«, sagte er und griff nach einem Kognakglas auf seinem Schreibtisch. Er trank und schluckte den Kognak langsam hinunter. »Schmeckt besser als Morphium«, erklärte er.
Ich nickte.
»Nimm dir«, sagte er und warf einen Blick auf die Karaffe.
»Im Moment nicht, danke«, erklärte ich ihm.
»Sicher?«
Ich nickte wieder.
Er starrte einen Moment in sein Glas und schwenkte
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