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Schlafender Tiger. Großdruck.

Schlafender Tiger. Großdruck.

Titel: Schlafender Tiger. Großdruck. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rosamunde Pilcher
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ge­kom­men?“
    Mrs. Bru­ce zerr­te hef­tig an ei­nem läs­ti­gen Kno­ten in der Wol­le, mit der sie ge­ra­de einen Wand­tep­pich knüpf­te. Der Ge­dan­ke, daß die­ser Mann mit den En­geln ver­kehr­te, schi­en ihr denn doch zu ab­we­gig, aber sie be­saß ei­ne stren­ge re­li­gi­öse Dis­zi­plin, und au­ßer­dem wä­re es falsch ge­we­sen, das Kind zu des­il­lu­sio­nie­ren. „Ja“, ant­wor­te­te sie.
    „Was ist mit ihm pas­siert?“
    „Er wur­de im Krieg ge­tö­tet.“
    „Ge­tö­tet? Wie wur­de er ge­tö­tet?“ (Sie konn­te sich nichts Schreck­li­che­res vor­stel­len, als von ei­nem Bus über­fah­ren zu wer­den.)
    „Wir ha­ben es nie er­fah­ren, Se­li­na. Wir kön­nen es dir wirk­lich nicht sa­gen. Und jetzt...“ Mrs. Bru­ce blick­te mit ei­ner Mie­ne auf ih­re Uhr, die deut­lich mach­te, daß das Ge­spräch be­en­det war. „Geh und sag Agnes, es ist Zeit für dei­nen Spa­zier­gang.“
    Agnes - dar­auf an­ge­spro­chen - er­wies sich als et­was mit­teil­sa­mer.
    „Agnes, mein Va­ter ist tot.“
    „Ja“, sag­te Agnes. „Ich weiß.“
    „Seit wann ist er tot?“
    „Seit dem Krieg. Seit 1945.“
    „Hat er mich je­mals ge­se­hen?“
    „Nein. Er starb, be­vor du ge­bo­ren wur­dest.“
    Das war ent­mu­ti­gend. „Hast du ihn je­mals ge­se­hen, Agnes?“
    „Ja“, gab Agnes wi­der­stre­bend zu. „Als dei­ne Mut­ter mit ihm ver­lobt war.“
    „Wie hieß er?“
    „Al­so, das kann ich dir nicht sa­gen. Ich ha­be es dei­ner Groß­mut­ter ver­spro­chen. Sie will nicht, daß du es weißt.“
    „Und, war er nett? Sah er gut aus? Was für ei­ne Far­be hat­te sein Haar? Wie alt war er? Moch­test du ihn?“
    Agnes, die eben­falls ih­re Grund­sät­ze hat­te, be­ant­wor­te­te die ein­zi­ge Fra­ge, die sie ehr­lich be­ant­wor­ten konn­te. „Er sah sehr gut aus. Und jetzt reicht es, den­ke ich. Lauf schon, Se­li­na, und schlurf nicht mit den Fü­ßen, du nutzt sonst die Soh­len dei­ner neu­en Schu­he ab.“
    „Ich hät­te gern einen Va­ter“, sag­te Se­li­na und be­ob­ach­te­te spä­ter am Nach­mit­tag ei­ne gu­te hal­be Stun­de einen Va­ter, der mit sei­nem Sohn ei­ne Mo­del­lyacht auf dem Teich se­geln ließ. Un­auf­fäl­lig schlich sie sich nä­her und nä­her an die bei­den her­an, in der Hoff­nung, et­was von ih­rer Un­ter­hal­tung auf­zu­schnap­pen.
     
    Sie fand das Fo­to, als sie fünf­zehn war, an ei­nem de­pri­mie­ren­den, reg­ne­ri­schen Mitt­woch in Lon­don. Es gab nichts zu tun. Agnes hat­te ih­ren frei­en Tag, Mrs. Hop­kins saß da, die ar­thri­ti­schen Bei­ne auf ei­ner Fuß­bank auf­ge­stützt und in den Peo­ple's Fri­end ver­tieft. Groß­mut­ter gab ei­ne Bridge Par­ty. Ge­dämpf­te Stim­men und der Duft teu­rer Zi­ga­ret­ten dran­gen durch die ge­schlos­se­nen Sa­lon­tü­ren. Nichts zu tun! Se­li­na, die ru­he­los im Haus um­her­streif­te, trat ins Gäs­te­zim­mer, warf einen Blick aus dem Fens­ter, schnitt ein paar Film­star­ge­sich­ter in dem drei­tei­li­gen Fri­sier­spie­gel und woll­te ge­ra­de wie­der hin­aus­ge­hen, als sie die Bü­cher auf dem schma­len Re­gal zwi­schen den bei­den Bet­ten ent­deck­te. Ihr kam der Ge­dan­ke, daß viel­leicht ein Buch da­bei war, das sie noch nicht kann­te, und sie knie­te sich zwi­schen die Bet­ten und fuhr mit dem Zei­ge­fin­ger über die Ti­tel.
    Bei Re­bec­ca hielt sie in­ne. Ei­ne Kriegs­aus­ga­be mit gel­bem Schutz­um­schlag. Sie nahm das Buch aus dem Re­gal, öff­ne­te es, und ein Fo­to fiel aus den eng­ge­druck­ten Sei­ten. Das Fo­to ei­nes Man­nes. Se­li­na hob es auf. Ei­nes Man­nes in Uni­form. Er hat­te sehr dunkles Haar, ein Grüb­chen am Kinn, bu­schi­ge Au­gen­brau­en und dunkle Au­gen, die vor La­chen blitz­ten, ob­wohl er sonst ei­ne erns­te Mie­ne zur Schau trug. Ein Sol­dat in ei­ner gut­sit­zen­den Uni­form mit vie­len Knöp­fen.
    Se­li­na hat­te einen wun­der­vol­len Ver­dacht. Ganz ent­fernt er­in­ner­te die­ses frem­de Ge­sicht an ihr ei­ge­nes. Sie nahm das Fo­to mit zum Spie­gel und ver­such­te, Ähn­lich­kei­ten zu ent­de­cken. Vie­le An­halts­punk­te gab es nicht. Der Mann war sehr at­trak­tiv, Se­li­na da­ge­gen un­schein­bar. Wäh­rend sei­ne Oh­ren eng am Kopf

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