Schlafender Tiger. Großdruck.
gekommen?“
Mrs. Bruce zerrte heftig an einem lästigen Knoten in der Wolle, mit der sie gerade einen Wandteppich knüpfte. Der Gedanke, daß dieser Mann mit den Engeln verkehrte, schien ihr denn doch zu abwegig, aber sie besaß eine strenge religiöse Disziplin, und außerdem wäre es falsch gewesen, das Kind zu desillusionieren. „Ja“, antwortete sie.
„Was ist mit ihm passiert?“
„Er wurde im Krieg getötet.“
„Getötet? Wie wurde er getötet?“ (Sie konnte sich nichts Schrecklicheres vorstellen, als von einem Bus überfahren zu werden.)
„Wir haben es nie erfahren, Selina. Wir können es dir wirklich nicht sagen. Und jetzt...“ Mrs. Bruce blickte mit einer Miene auf ihre Uhr, die deutlich machte, daß das Gespräch beendet war. „Geh und sag Agnes, es ist Zeit für deinen Spaziergang.“
Agnes - darauf angesprochen - erwies sich als etwas mitteilsamer.
„Agnes, mein Vater ist tot.“
„Ja“, sagte Agnes. „Ich weiß.“
„Seit wann ist er tot?“
„Seit dem Krieg. Seit 1945.“
„Hat er mich jemals gesehen?“
„Nein. Er starb, bevor du geboren wurdest.“
Das war entmutigend. „Hast du ihn jemals gesehen, Agnes?“
„Ja“, gab Agnes widerstrebend zu. „Als deine Mutter mit ihm verlobt war.“
„Wie hieß er?“
„Also, das kann ich dir nicht sagen. Ich habe es deiner Großmutter versprochen. Sie will nicht, daß du es weißt.“
„Und, war er nett? Sah er gut aus? Was für eine Farbe hatte sein Haar? Wie alt war er? Mochtest du ihn?“
Agnes, die ebenfalls ihre Grundsätze hatte, beantwortete die einzige Frage, die sie ehrlich beantworten konnte. „Er sah sehr gut aus. Und jetzt reicht es, denke ich. Lauf schon, Selina, und schlurf nicht mit den Füßen, du nutzt sonst die Sohlen deiner neuen Schuhe ab.“
„Ich hätte gern einen Vater“, sagte Selina und beobachtete später am Nachmittag eine gute halbe Stunde einen Vater, der mit seinem Sohn eine Modellyacht auf dem Teich segeln ließ. Unauffällig schlich sie sich näher und näher an die beiden heran, in der Hoffnung, etwas von ihrer Unterhaltung aufzuschnappen.
Sie fand das Foto, als sie fünfzehn war, an einem deprimierenden, regnerischen Mittwoch in London. Es gab nichts zu tun. Agnes hatte ihren freien Tag, Mrs. Hopkins saß da, die arthritischen Beine auf einer Fußbank aufgestützt und in den People's Friend vertieft. Großmutter gab eine Bridge Party. Gedämpfte Stimmen und der Duft teurer Zigaretten drangen durch die geschlossenen Salontüren. Nichts zu tun! Selina, die ruhelos im Haus umherstreifte, trat ins Gästezimmer, warf einen Blick aus dem Fenster, schnitt ein paar Filmstargesichter in dem dreiteiligen Frisierspiegel und wollte gerade wieder hinausgehen, als sie die Bücher auf dem schmalen Regal zwischen den beiden Betten entdeckte. Ihr kam der Gedanke, daß vielleicht ein Buch dabei war, das sie noch nicht kannte, und sie kniete sich zwischen die Betten und fuhr mit dem Zeigefinger über die Titel.
Bei Rebecca hielt sie inne. Eine Kriegsausgabe mit gelbem Schutzumschlag. Sie nahm das Buch aus dem Regal, öffnete es, und ein Foto fiel aus den enggedruckten Seiten. Das Foto eines Mannes. Selina hob es auf. Eines Mannes in Uniform. Er hatte sehr dunkles Haar, ein Grübchen am Kinn, buschige Augenbrauen und dunkle Augen, die vor Lachen blitzten, obwohl er sonst eine ernste Miene zur Schau trug. Ein Soldat in einer gutsitzenden Uniform mit vielen Knöpfen.
Selina hatte einen wundervollen Verdacht. Ganz entfernt erinnerte dieses fremde Gesicht an ihr eigenes. Sie nahm das Foto mit zum Spiegel und versuchte, Ähnlichkeiten zu entdecken. Viele Anhaltspunkte gab es nicht. Der Mann war sehr attraktiv, Selina dagegen unscheinbar. Während seine Ohren eng am Kopf
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