Schlafender Tiger. Großdruck.
werde es Ihnen ein paar Tage vorher schicken, damit Sie es Ihrem Friseur zeigen können. Es wäre ganz besonders hübsch, wenn Sie Ihr Haar hochstecken würden und dann das Krönchen darauf...“
Selina hatte eine fixe Idee wegen ihrer Ohren. Sie fand sie groß und häßlich. Trotzdem sagte sie kleinlaut: „Ja“ und griff nach ihrem Rock.
„Sie denken an die Schuhe, Miss Bruce?“
„Ja, ich werde weiße kaufen. Haben Sie vielen Dank, Miss Stebbings.“
„Keine Ursache.“ Miss Stebbings half Selina in ihre Kostümjacke. Sie stellte fest, daß Selina die Perlen ihrer Großmutter trug, zweireihig und mit einem Verschluß aus Saphiren und Diamanten. Ihr entging auch nicht der Verlobungsring, ein riesiger Sternsaphir in einer Fassung aus Perlen und Diamanten. Sie brannte darauf, eine Bemerkung darüber zu machen, wollte aber nicht aufdringlich oder vulgär erscheinen. Daher sah sie in damenhaftem Schweigen zu, wie Selina ihre Handschuhe nahm, hielt den Brokatvorhang des Ankleidezimmers auf und geleitete Selina hinaus.
„Auf Wiedersehen, Miss Bruce. Es war mir wirklich ein Vergnügen.“
„Danke. Auf Wiedersehen, Miss Stebbings.“
Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten, durchquerte verschiedene Abteilungen und ging schließlich durch die Drehtüren auf die Straße. Nach der überheizten Luft des Kaufhauses drang die Kälte draußen schneidend durch ihre Jacke. Es war März, und über den blauen Himmel jagten weiße Wolken. Als Selina an den Straßenrand trat, um einem Taxi zu winken, blies der Wind ihr das Haar ins Gesicht, zerrte an ihrem Rock und wehte ihr Staub in die Augen.
„Wohin?“ fragte der Taxifahrer, ein junger Mann mit einer buntkarierten Schirmmütze. Er sah aus, als jage er in seiner Freizeit Windhunde.
„Zum 'Bradley', bitte.“
„In Ordnung!“
Im Taxi roch es nach Desinfektionsmitteln und abgestandenem Zigarrenqualm. Selina wischte sich den Staub aus den Augen und rollte das Fenster herunter. Gelbe Narzissen blühten im Park, ein junges Mädchen ritt auf einem braunen Pferd, und die Bäume trugen einen Hauch von Grün, die Blätter noch unberührt vom Ruß und Staub der Großstadt. Es war kein Tag für London. Es war ein Tag, um auf dem Land zu sein, einen Hügel zu erklimmen oder ans Meer hinunterzulaufen.
In den Straßen staute sich der Mittagsverkehr, und die Bürgersteige waren voll von Geschäftsleuten, Damen beim Einkaufsbummel, Sekretärinnen und Liebespaaren, die sich an den Händen hielten und über den Wind lachten. Eine Frau verkaufte Veilchen von einem Blumenkarren, und selbst der ungepflegte alte Mann, der mit zwei umgehängten Reklametafeln den Rinnstein entlangtrottete, trug keck eine Narzisse im Revers seines ausgebeulten Mantels.
Das Taxi bog in die Bradley Street ein und hielt vor dem Hotel. Der Portier kam, um Selina die Tür zu öffnen. Er kannte sie, denn er hatte ihre Großmutter, die alte Mrs. Bruce, gekannt. Selina war schon mit ihrer Großmutter zum Mittagessen ins 'Bradley' gekommen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Jetzt lebte Mrs. Bruce nicht mehr, und Selina kam allein.
„'n Morgen, Miss Bruce“, begrüßte sie der Portier.
„Guten Morgen.“ Sie öffnete ihre Handtasche auf der Suche nach etwas Kleingeld.
„Ein wunderschöner Tag heute.“
„Schrecklich windig.“ Sie bezahlte den Taxifahrer, bedankte sich und wandte sich zur Tür. „Ist Mr. Ackland schon da?“
„Ja, seit ungefähr fünf Minuten.“
„Oh, verflixt, ich komme zu spät!“
„Kann nicht schaden, die Männer warten zu lassen.“
Er setzte die Drehtür für sie in Bewegung, und Selina fand sich in der warmen, luxuriösen Hotelhalle wieder. Es duftete nach teuren Zigarren, köstlichem Essen, nach Blumen
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