Schlafender Tiger. Großdruck.
anlagen, standen Selinas ab wie die Henkel einer Kaffeekanne.
Sie drehte das Foto um. Auf der Rückseite stand:
Harriet, mein Liebling,
von G.
und ein paar Kreuze, Zeichen für Küsse.
Harriet war der Name ihrer Mutter gewesen, und nun wußte Selina, daß dies ein Foto ihres Vaters war.
Sie erzählte niemandem davon. Sie stellte Rebecca ins Regal zurück und nahm das Foto mit auf ihr Zimmer. Von da an trug sie es immer bei sich, in dünnes Papier eingewickelt, damit es nicht zerknitterte oder schmutzig wurde. Sie hatte auf einmal eine Ahnung von ihrer Vergangenheit, allerdings viel zu vage, um ihr Verlangen zu stillen, und so beobachtete sie weiterhin andere Familien und belauschte ihre Unterhaltungen...
Die Stimme eines Kindes riß Selina aus ihren Gedanken. Sie hatte geträumt. Jetzt, wo sie hellwach war, hörte sie auf einmal den brausenden Verkehr auf dem Piccadilly Circus und das Gebrabbel eines Babys in einem Kinderwagen. Das kleine Mädchen auf dem Dreirad und ihr Vater waren längst verschwunden. Andere Menschen hatten ihren Platz eingenommen, und nur ein paar Meter von Selina entfernt lag ein engumschlungenes Liebespaar im Gras.
Der Holzstuhl wurde langsam unbequem. Selina veränderte ihre Haltung ein wenig, und das Päckchen, das Rodney ihr gegeben hatte, glitt von ihrem Schoß und fiel zu Boden. Sie bückte sich, hob es auf und begann zerstreut, es auszupacken. Auf dem Schutzumschlag aus weißem Hochglanzpapier stand in roten Buchstaben:
FIESTA IN CALA FUERTE
von George Dyer
Selina verzog den Mund. Das Buch wirkte ziemlich schwierig. Sie blätterte es flüchtig durch und schloß es wieder, als hätte sie es bereits ausgelesen. Es lag mit dem Rücken nach oben auf ihren Knien.
Das Gesicht sprang ihr ins Auge, so wie ein Name einem manchmal plötzlich aus einem Zeitungsartikel ins Auge springt. Es war ein Privatfoto, das man vergrößert hatte, damit es auf die Rückseite des Umschlags paßte. George Dyer. Er trug ein weißes Hemd mit offenem Kragen, und seine Haut erschien im Gegensatz dazu dunkel wie Leder. Das Gesicht war von feinen Linien durchzogen, sie umrahmten seine Augen, zogen tiefe Kanäle von der Nase zum Mund, zerfurchten die Stirn.
Aber trotzdem, es war dasselbe Gesicht. Er hatte sich nicht sehr verändert. Das Grübchen am Kinn war da. Die schönen Ohren, das Strahlen in seinen Augen, als würden er und der Fotograf sich über irgend etwas köstlich amüsieren.
George Dyer. Der Autor. Er lebte auf einer Insel im Mittelmeer und schrieb äußerst wohlüberlegt und vernünftig über die Einheimischen. Das war sein Name, George Dyer.
Selina nahm ihre Tasche, holte das Foto ihres Vaters heraus und hielt die beiden Fotos mit zitternden Händen nebeneinander.
George Dyer. Und er hatte ein Buch veröffentlicht. Und er lebte.
2
S elina nahm ein Taxi zurück nach Queen's Gate, lief die Treppen hoch, stürmte in die Wohnung und rief nach Agnes.
„Ich bin hier, in der Küche“, antwortete Agnes.
Als Selina in der Küchentür erschien, war Agnes gerade dabei, Teeblätter in eine Kanne zu füllen. Sie war eine kleine, alterslose Person, und Selina wußte, daß ihr leicht säuerlicher Gesichtsausdruck lediglich als Schutz gegen die Tragödien des Lebens diente. Agnes hatte das gütigste Herz der Welt und ertrug es kaum, all den Kummer und das Leid, von dem sie hörte, nicht lindern zu können. „Diese armen Äthiopier“, pflegte sie zu sagen und setzte ihren Hut auf, um loszugehen und eine Spendenanweisung in Auftrag zu geben, meistens über mehr, als sie sich leisten konnte. Während der Kampagne „Gegen Hunger in der Welt“ hatte sie sieben Tage auf
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