Schlafender Tiger. Großdruck.
Probleme der Zeit aufgriff. Oder vielleicht ein Reiseführer, mit Augenzeugenberichten von den exotischen Sitten und Gebräuchen irgendeines zentralafrikanischen Stammes.
Es war Rodneys ganzer Ehrgeiz, Selinas Geist zu schulen, und es betrübte ihn zutiefst, daß sie eine so deutliche Vorliebe für Zeitschriften, Taschenbücher und Kriminalromane hatte.
Mit anderen Gebieten der Kultur stand es genauso. Selina liebte das Theater, konnte aber einer vierstündigen Geduldsprobe über zwei Menschen, die in Mülltonnen lebten, nichts abgewinnen. Auch war sie eine begeisterte Anhängerin des Balletts, zog es allerdings vor, wenn die Tänzerinnen Tutus trugen. Sie mochte Walzer lieber als Tschaikowsky, und Solo-Violinkonzerte hinterließen bei ihr ausnahmslos ein Gefühl in den Zähnen, als hätte sie kürzlich auf einen Pflaumenkern gebissen.
„Ja“, sagte Rodney, „ich habe es selbst gelesen, und ich war dermaßen beeindruckt, daß ich dir eine eigene Ausgabe davon gekauft habe.“
„Wie lieb von dir.“ Sie betrachtete das Paket prüfend. „Wovon handelt es?“
„Von einer Insel im Mittelmeer.“
„Das klingt nett.“
„Es ist so eine Art Biographie, glaube ich. Der Typ zog vor sechs oder sieben Jahren dorthin. Baute sich ein Haus um und freundete sich sehr mit den Einheimischen an. Seine Schilderungen der spanischen Lebensweise erschienen mir äußerst wohlüberlegt, äußerst vernünftig. Es wird dir gefallen, Selina.“
„Ja, da bin ich sicher“, erwiderte sie und legte das Päckchen neben sich auf das Sofa. „Vielen Dank, Rodney.“
Nach dem Essen verabschiedeten sie sich auf dem Gehsteig. Sie standen sich gegenüber, wobei Rodneys Bowler so weit vorn saß, daß er ihm fast bis auf die Nase reichte, während Selina das Haar ins Gesicht wehte.
„Was wirst du heute nachmittag anfangen?“ fragte er.
„Oh, ich weiß nicht.“
„Warum machst du nicht einen Bummel zu 'Woollands' und versuchst, eine Entscheidung bezüglich der Vorhänge zu treffen? Wenn du einige Muster bekommst, könnten wir sie morgen nachmittag mit in die Wohnung nehmen.“
„Ja.“ Der Vorschlag klang vernünftig. „Das ist eine gute Idee.“
Er lächelte sie aufmunternd an. Selina lächelte zurück.
„Nun, dann auf Wiedersehen“, sagte er. Er küßte sie nie auf der Straße.
„Auf Wiedersehen, Rodney. Vielen Dank für das Mittagessen. Und das Geschenk“, fügte sie noch schnell hinzu.
Er machte eine kleine, nonchalante Geste mit der Hand, wandte sich ab und ging davon, wobei er seinen Regenschirm als Spazierstock benutzte und sich geschickt seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte.
Selina erwartete halb, daß er sich umdrehen und ihr ein letztes Mal zuwinken würde, doch das tat er nicht.
Sie seufzte. Es war inzwischen noch wärmer geworden. Der Himmel war wolkenlos, und sie konnte den Gedanken, in einem stickigen Laden zu sitzen und Muster für Wohnzimmergardinen auszusuchen, nicht ertragen. Ziellos wanderte sie in Richtung Piccadilly, überquerte unter Lebensgefahr die Straße und betrat den Park.
Die Bäume zeigten sich von ihrer schönsten Seite; das Gras hatte sein winterliches Schmutzigbraun verloren und war frisch und grün. Als Selina darüberging, duftete es wie eine Sommerwiese. Teppiche voller gelber und violetter Krokusse breiteten sich vor ihr aus, und unter den Bäumen standen paarweise Stühle.
Selina setzte sich in einen davon, lehnte sich mit ausgestreckten Beinen zurück und hielt ihr Gesicht in die Sonne. Schon bald begann ihre Haut vor Wärme zu prickeln. Sie setzte sich auf, zog ihre Kostümjacke aus und schob die Ärmel ihres Pullovers hoch. Schließlich konnte sie genausogut morgen
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