Schlafender Tiger. Großdruck.
früh zu „Woollands“ gehen.
Ein kleines Mädchen, begleitet von seinem Vater und einem kleinen Hund, kam auf einem Dreirad vorbei. Es hatte rote Strumpfhosen und ein blaues Kleid an und ein schwarzes Band im Haar. Der Vater war noch ziemlich jung und trug einen Rollkragenpullover und ein Tweedjackett. Als die Kleine ihr Dreirad anhielt und über das Gras lief, um an den Krokussen zu riechen, machte er keinen Versuch, sie aufzuhalten, sondern sah ihr lächelnd zu, während er das Dreirad festhielt. „Sie riechen ja gar nicht“, sagte das kleine Mädchen.
Ihr Vater nickte. „Das hätte ich dir vorher sagen können.“
„Warum riechen sie nicht?“
„Ich habe keine Ahnung.“
„Ich dachte, alle Blumen riechen.“
„Die meisten schon. Komm jetzt, laß uns weitergehen.“
„Kann ich welche pflücken?“
„Das würde ich lieber nicht tun.“
„Warum nicht?“
„Die Parkwächter mögen das nicht.“
„Warum nicht?“
„Es ist eine Vorschrift.“
„Warum?“
„Nun, weil andere Leute sie sich auch gern ansehen. Komm jetzt.“
Das kleine Mädchen gehorchte, stieg wieder auf sein Dreirad und fuhr weiter, gefolgt von seinem Vater.
Selina hatte diese kleine Szene beobachtet, hin- und hergerissen zwischen Vergnügen und Wehmut. Ihr ganzes Leben lang hatte sie Gespräche anderer Familien, anderer Kinder, anderer Eltern belauscht. Die Art, wie sie miteinander umgingen, führte bei ihr zu endlosen Spekulationen. Als Kind war sie oft von Agnes, ihrem Kindermädchen, mit in den Park genommen worden, wo sie schüchtern andere Kinder beim Spielen beobachtet hatte, sehnsüchtig darauf wartend, daß man sie zum Mitmachen aufforderte, jedoch zu ängstlich, um zu fragen. Sie wurde nur selten aufgefordert. Ihre Kleidung war viel zu sauber und adrett, und Agnes, die strickend auf einer Bank in der Nähe saß, konnte äußerst furchteinflößend aussehen. Wenn Gefahr bestand, daß Selina sich mit Kindern abgab, die die alte Mrs. Bruce für „unpassend“ gehalten hätte, rollte Agnes ihr Wollknäuel auf, steckte die Nadeln hinein und rief ihr zu, es sei Zeit, nach Queen's Gate zurückzukehren.
Selinas Zuhause war ein Frauenhaushalt, eine kleine, weibliche Welt, regiert von Mrs. Bruce. Agnes, die früher ihr Hausmädchen gewesen war, Mrs. Hopkins, die Köchin, und Selina waren ihre gehorsamen Untertanen. Männer, außer Mr. Arthurstone, Großmutters Anwalt, oder in den letzten Jahren Rodney Ackland, der Mr. Arthurstone vertrat, hatten so gut wie nie das Haus betreten. Und wenn es doch einer tat - um ein Rohr zu reparieren, etwas anzustreichen oder einen Zähler abzulesen-, fand man Selina unweigerlich in seiner Gesellschaft, eifrig Fragen stellend. War er verheiratet? Hatte er Kinder? Wie hießen sie? Wohin fuhren sie in Urlaub? Es waren die wenigen Anlässe, bei denen Agnes ärgerlich wurde.
„Was um Himmels willen würde deine Großmutter sagen, wenn sie hören könnte, wie du den Mann von der Arbeit abhältst?“
„Tu ich gar nicht.“ Manchmal konnte Selina stur sein.
„Was hast du mit dem schon zu reden?“
Darauf konnte sie nichts antworten, denn sie verstand selbst nicht, warum es so wichtig für sie war. Doch niemand sprach über ihren Vater. Sein Name wurde nie erwähnt. Selina wußte nicht einmal, wie er geheißen hatte, da Mrs. Bruce die Mutter ihrer Mutter war und Selina ihren Namen angenommen hatte.
Einmal, als sie aus irgendeinem Grund wütend war, hatte sie ganz offen gefragt: „Ich will wissen, wo mein Vater ist. Warum hab ich keinen? Alle anderen haben einen.“
Ihre Großmutter hatte - kühl, aber nicht unfreundlich - gesagt, er sei tot.
Selina besuchte regelmäßig die Sonntagsschule. „Meinst du damit, er ist in den Himmel
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