Schlafender Tiger. Großdruck.
Pause hatte Agnes wieder „Ja, Madam“ gesagt und war mit einem kurzen kühlen Lächeln belohnt worden. Mrs. Bruce hob Selina hoch und legte sie in Agnes' Arme. „Ich fühle mich jetzt viel wohler“, sagte sie.
„Danke, Agnes.“
„Du glaubst, es ist mein Vater, nicht wahr?“ fragte Selina.
„Ich bin mir nicht sicher, Selina, und das ist die Wahrheit“, beteuerte Agnes.
„Warum hast du mir nie seinen Namen verraten?“
„Ich hatte es deiner Großmutter versprochen. Jetzt habe ich mein Wort gebrochen.“
„Du hattest keine andere Wahl.“
Agnes kam ein Gedanke. „Woher weißt du überhaupt, wie er aussah?“
"Ich habe ein Foto gefunden, vor Jahren. Ich habe es keinem von euch erzählt.“
„Du wirst nichts ... nichts unternehmen?“ Agnes' Stimme zitterte allein schon bei dem Gedanken daran.
„Ich könnte ihn suchen“, erwiderte Selina.
„Wozu, soll das gut sein? Selbst wenn er dein Vater wäre.“
„Ich weiß, daß er mein Vater ist. Ich weiß es einfach. Alles deutet darauf hin. Alles was du mir erzählt hast. Alles was du gesagt hast...“
„Und wenn er es ist, warum ist er dann nach dem Krieg nicht zu Harriet zurückgekehrt?“
„Was wissen wir denn? Vielleicht war er verwundet, hatte sein Gedächtnis verloren. So was ist vorgekommen, weißt du.“
Agnes schwieg.
„Vielleicht war meine Großmutter so schrecklich zu ihm...“
„Nein“, widersprach Agnes. „Das hätte ihn niemals davon abgehalten. Nicht Mr. Dawson.“
„Er wird erfahren wollen, daß er eine Tochter hat. Daß er mich hat. Und ich möchte ihn kennenlernen. Ich will wissen, wie er ist, wie er spricht, was er denkt und tut. Ich möchte das Gefühl haben, zu jemandem zu gehören. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, niemals wirklich zu jemandem zu gehören.“
Doch Agnes wußte, wovon Selina sprach, sie hatte Selinas innere Unruhe schon immer gespürt und den Grund dafür geahnt. Nach kurzem Überlegen machte sie den einzigen Vorschlag, der ihr einfiel: „Warum sprichst du nicht mit Mr. Ackland darüber?“
Das Büro des Verlegers befand sich im obersten Stockwerk des Gebäudes, am Ziel einer ungewissen Reise nach oben in kleinen, zitternden Fahrstühlen, über kurze Treppen, enge Flure und noch mehr Treppen. Außer Atem und in der Erwartung, jeden Moment auf dem Dach des Hauses anzukommen, fand Selina sich vor einer Tür mit dem Schild Mr. A. G. Rutland wieder.
Sie klopfte. Keine Reaktion, nur das Tippen einer Schreibmaschine war zu hören. Selina öffnete die Tür.
Das Mädchen, das auf der Schreibmaschine schrieb, blickte auf und fragte: „Ja?“
„Ich möchte zu Mr. Rutland.“
„Haben Sie einen Termin?“
„Ich habe heute morgen angerufen. Mein Name ist Bruce. Er sagte, falls ich so um halb elf herum kommen würde...“ Sie sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach zehn.
„Also, im Moment ist jemand bei ihm“, sagte die Sekretärin. „Sie setzen sich am besten hin und warten.“ Sie fuhr mit dem Schreiben fort.
Selina betrat das Vorzimmer, schloß die Tür und setzte sich auf einen kleinen, harten Stuhl. Aus dem Inneren des Büros war das leise Murmeln von Männerstimmen zu hören. Etwa nach zwanzig Minuten wurde das Murmeln lauter, man hörte, wie ein Stuhl zurückgeschoben wurde, Schritte näherten sich. Die Tür des Büros wurde geöffnet, ein Mann kam heraus. Er zog seinen Mantel an und ließ dabei eine Mappe mit Papieren fallen.
„Oh, wie ungeschickt von mir...“ Er bückte sich, um die Papiere aufzuheben. „Danke, Mr. Rutland, für alles...“
„Keine Ursache. Kommen Sie wieder, wenn sie ein paar neue Ideen für den Schluß haben.“
„Ja, natürlich.“
Sie verabschiedeten sich. Der Verleger wollte schon in sein Büro zurückgehen, da stand Selina auf. „Mr. Rutland?“
Er drehte sich um.
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