Schlafender Tiger. Großdruck.
„Ja?“ Er war älter, als sie erwartet hatte, mit einer Glatze und einer jener Brillen, bei denen man entweder durch die Gläser oder über den Rand hinweg sehen kann. Im Moment guckte er über den Rand wie ein alter Lehrer.
„Ich... Ich glaube, wir sind verabredet.“
„Tatsächlich?“
„Ja. Ich bin Selina Bruce. Ich habe heute morgen angerufen.“
„Ich bin sehr beschäftigt...“
„Es wird nicht länger als fünf Minuten dauern.“
„Sind Sie Schriftstellerin?“
„Nein, nichts dergleichen. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie mir helfen können... einige Fragen zu beantworten.“
Er seufzte. „Na gut.“
Selina trat in sein Büro und sah Bücher, wohin sie auch blickte. Auf dem mit Papieren übersäten Schreibtisch, in unzähligen Regalen, auf den Tischen und Stühlen und selbst auf dem Teppich stapelten sich Bücher und Manuskripte.
Er entschuldigte sich nicht für die Unordnung, offensichtlich sah er keinen Grund dafür, und eigentlich gab es ja auch keinen. Höflich rückte er Selina einen Stuhl zurecht und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er hatte noch nicht richtig Platz genommen, da begann Selina auch schon.
„Mr. Rutland, es tut mir wirklich leid, daß ich Ihre Zeit in Anspruch nehmen muß, und ich werde mich so kurz wie möglich fassen. Es geht um ein Buch, das Sie veröffentlicht haben, Fiesta in Cala Fuerte.“
„Ah ja. George Dyer.“
„Ja. Wissen Sie irgend etwas über ihn?“
Diese unverblümte Frage wurde mit strengem Schweigen und einem noch strengeren Blick über Mr. Rutlands Brillenränder beantwortet. „Wieso?“ fragte er schließlich. „Wissen Sie denn etwas über ihn?“
„Ja. Zumindest glaube ich das. Er war ein... Freund meiner Großmutter. Sie starb vor ungefähr sechs Wochen, und ich... Nun, ich wollte es ihn gern wissen lassen.“
„Ich kann jederzeit einen Brief von Ihnen weiterleiten.“
Selina holte tief Luft und versuchte es mit einer anderen Taktik. „Wissen Sie viel über ihn?“
„Ich denke, soviel wie Sie. Ich nehme an, Sie haben das Buch gelesen.“
„Ich meine... Sie haben ihn nie kennengelernt?“
„Nein“, antwortete Mr. Rutland. „Er lebt in Cala Fuerte auf der Insel San Antonio. Und zwar, soweit ich weiß, seit sechs oder sieben Jahren.“
„Er ist nie nach London gekommen? Nicht mal zur Veröffentlichung seines Buches?“
Mr. Rutland schüttelte seinen kahlen Kopf, und das Licht, das durchs Fenster fiel, spiegelte sich darauf.
„Wissen... Wissen Sie, ob er verheiratet ist?“
„Bei der Veröffentlichung des Buches war er nicht verheiratet. Er könnte es allerdings inzwischen sein.“
„Und wie alt ist er?“
„Ich habe keine Ahnung, wie alt er sein mag.“ Mr. Rutland klang langsam etwas ungeduldig. „Meine liebe junge Dame, Sie verschwenden meine Zeit.“
„Ich weiß. Es tut mir leid. Ich dachte nur, Sie könnten mir helfen. Ich dachte, es wäre immerhin möglich, daß er jetzt in London ist und ich ihn hätte treffen können.“
„Nein, leider nicht.“ Mr. Rutland erhob sich entschlossen, um anzudeuten, daß das Gespräch für ihn beendet war.
Selina stand ebenfalls auf, und er begleitete sie zur Tür. „Aber sollten Sie wirklich mit ihm in Kontakt treten wollen, werden wir Ihre Briefe gern an Mr. Dyer weiterleiten.“
„Vielen Dank. Es tut mir leid, daß ich Ihre Zeit in Anspruch genommen habe.“
„Keine Ursache. Auf Wiedersehen.“
„Auf Wiedersehen.“
Doch als sie an ihm vorbeiging und das Vorzimmer durchquerte, sah sie so verzweifelt aus, daß Mr. Rutland gegen seinen Willen gerührt war. Er runzelte die Stirn und nahm seine Brille ab. „Miss Bruce?“
Selina drehte sich um.
„Wir schicken alle Briefe an den Yacht-Club in San Antonio, aber sein Haus heißt Casa Barco in Cala Fuerte. Es spart vielleicht Zeit, wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher